Wie nähert sich ein Dirigent einer Partitur, noch dazu einer besonders populären? Ein- und Ausblicke von Manfred Honeck, Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra, das am 31. August und am 1. September in Grafenegg gastiert.
Vom Namen Beethoven geht eine unglaubliche Faszination aus. Ich habe lange gezögert, Beethovens Symphonien zu dirigieren. Ich habe sie natürlich alle studiert, aber ich habe damit gewartet, sie aufs Programm zu setzen, denn zuerst musste ich meine Eindrücke sortieren und eine gewisse Distanz von den vielfältigen Einflüssen gewinnen. Es stellten sich darüber hinaus auch die Fragen, die jeder Dirigent für jedes Werk aufs Neue beantworten muss: Was ist Beethovens Wille und was sind die Besonderheiten des Stücks? Unter welchen Umständen wurde es komponiert? Was war zur Zeit der Komposition neu? Was sollte in einer ganz bestimmten Weise geschehen? Welche Traditionen sollten – wenn überhaupt – befolgt werden? Ist es möglich, noch etwas ganz Neues zu entdecken?
Es ist interessant, die mehr als hundert Seiten an Skizzen zu studieren, die Beethoven für die siebte Symphonie geschrieben hat. Trotz der vielen individuellen Gedanken und Motive darf man nicht vergessen, dass Beethoven selbst einmal auf die Tatsache hinwies, dass er immer das große Ganze vor Augen hatte, wenn er Instrumentalmusik schrieb. Dies ist der Schlüsselgedanke zur Gestaltung einer Interpretation, insbesondere für die Siebte, wo die Gefahr besteht, aufgrund der vielen kleinen Details das Gesamtbild zu vernachlässigen. Eine zu starke Konzentration auf die einzelnen Elemente könnte zu einer gewissen Starre der Musik führen, aber es gibt auch Möglichkeiten jenseits der Förmlichkeit einer reinen Ausführung.
Die Uraufführung von Beethovens siebter Symphonie fand 1813 im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzerts für verwundete österreichische und bayerische Soldaten statt. Die allgemeine Stimmung war freudig erregt und spiegelte den gesunden Menschenverstand der Wiener Bevölkerung zu dieser Zeit wieder, die gern alles unterstützte, was gegen Napoleon war. Viele der bedeutendsten Musiker in Wien standen auf dem Podium, darunter der berühmte Violinist Louis Spohr sowie die Komponisten Johann Nepomuk Hummel, Antonio Salieri und Giacomo Meyerbeer. Beethoven selbst dirigierte die Uraufführung, die zu einem seiner größten Triumphe geriet. Die Kritiker kommentierten nicht die lyrischen Melodien, sondern vielmehr den Rhythmus als wesentliches Element dieser Symphonie. Niemand zuvor hatte ein solch revolutionäres, in erster Linie auf der Rhythmik basierendes Werk komponiert und es sollte knapp hundert Jahre dauern, bis durch Strawinsky Gleiches geschah.
Im Verlauf des gesamten ersten Satzes ist es zweifelsohne die unglaubliche rhythmische Brillanz mit all ihren vielfältigen Steigerungen und Entwicklungen, sei es über einen längeren Zeitraum oder durch einen kurzen Ausbruch, die diesen Satz so besonders macht. Dieses wahrhaft symphonische Feuerwerk erkundet neue, nie zuvor gesehene Gebiete. Dabei ist es genauso wichtig, die zahlreichen Fermaten oder Ruhepunkte zu beachten, an denen alles stillsteht.
Der zweite Satz, der regelwidrig mit einem Quartsextakkord beginnt und endet, basiert ebenfalls auf einem rhythmischen Thema, allerdings hier mit einem langsamer schreitenden, gravitätischen Schritt. Ist dies ein Trauermarsch? In diesem Fall könnte man die Noten dem Usus entsprechend recht kurz spielen, und die Wirkung wäre interessant und akzeptabel. Wenn man jedoch dem schönen Gedanken von Wolfgang Osthoff folgt, der dieses Thema in Bezug zur lateinischen Litaneiformel Sancta Maria, ora pro nobis (“Heilige Maria, bitte für uns”) setzt, dann kann man diese Einleitung auf eher lyrische, gesangliche Weise betrachten. Osthoff vergleicht das crescendo und decrescendo mit dem Kommen und Gehen einer Prozession. Das zweite Thema erinnert an Florestans Arie aus dem Fidelio mit den Worten “Euch werde Lohn in bess’ren Welten. Der Himmel hat Euch mir geschickt.”
Interessant ist außerdem, dass Beethoven den zweiten Satz mit Allegretto und nicht wie eher üblich, mit Andante überschreibt, was ein langsameres Tempo bedeuten würde. Ein weiterer Schlüssel zum Charakter des Tempos ist Beethovens Metronomangabe (Viertel = 76 Schläge pro Minute).
Der dritte Satz ist ein traditionelles Scherzo, ein Tanzsatz, der die unterhaltsame, fröhliche Stimmung der Symphonie fortsetzt. Beethoven bezeichnet ihn mit Presto, ein Satz, der höchste Anforderungen ans Ensemblespiel setzt. Abbé Stadler, ein Freund Beethovens, beschreibt das Trio als niederösterreichischen Pilgergesang, der für mich wie ein sehr ruhiges Nachtlied klingt, ein Naturlaut. Ich interpretiere die darauffolgende Musik als bäuerlichen Tanz, und obwohl Beethoven hier ein fortissimo vorschreibt, muss diese große und explosive Gestik in allererster Linie den Tanzcharakter reflektieren.
Der letzte Satz, den Beethoven mit Allegro con brio überschreibt, ist von hitzigem Temperament, ein wilder und ungestümer Tanz. Es ist unerlässlich, den ganzen Satz hindurch den Rhythmus mit unvorstellbarem Antrieb sowie enormer Energie und Brillanz zu spielen. Alle Akzente müssen mit großer Leidenschaft und Vitalität ausgeführt werden, nichtsdestoweniger ist es von entscheidender Bedeutung, die Balance zwischen glühender, waghalsiger Hemmungslosigkeit und extremer Präzision zu finden. Keiner der Akzente sollte verlorengehen und auch im Verlauf der wenigen Fermaten und Ruhepunkte, die den rhythmischen Antrieb unterbrechen, sollte alles mit größtmöglichem Impetus und aufgestauter Kraft gespielt werden, um so eine fast unersättliche Energie zu erzeugen. Gegen Ende des Satzes habe ich die Geigen gebeten, die leere E-Saite zu benutzen (zunächst vier Takte in den ersten Violinen gefolgt von vier Takten in den zweiten Violinen). Diese Bitte mag ungewöhnlich erscheinen (obwohl dies zu Beethovens Zeit zum Standard gehörte), jedoch verleiht der Klang der leeren E-Saite der Farbe eine fantastische Brillanz und Intensität, die es beiden Stimmen erlaubt, ihre Linie mit einem lebendigen crescendo aufzubauen, die schlussendlich im Höhepunkt kulminiert. In einem solchem Moment ermöglichen es unsere modernen Instrumente, die Wildheit der komponierten Musik zu unterstützen und die Musik wirklich bis an die Grenze zu führen.
In Beethovens siebter Symphonie gilt es, unzählige Details zu beachten, für mich jedoch sind der Ausdruck und die Phrasierung am wichtigsten. Mit der Phrasierung gehen der Charakter und die generelle Spielweise einher, die Reise durch die Noten, die offenlegt, was in der Essenz der Musik jenseits des reinen Notentexts zu finden ist. Es ist eine Freude, tief in Beethovens Komposition vorzudringen und dabei den Sinn und Gehalt der Musik und damit gleichzeitig den Grund für ihre Entstehung zu entdecken. Für mich ist das stets der schönste Teil des kreativen Prozesses.