LEON BOTSTEIN, KÜNSTLERISCHER LEITER DES CAMPUS GRAFENEGG, ÜBER ZIELE UND IDEEN
Herr Botstein, Sie kommen aus einer Ärztefamilie. Wie fanden Sie zur Musik?
Leon Botstein: Als Kind, als Emigrant machte ich mehrere Sprachwechsel mit. Aus diesem Grund fiel mir der normale Spracherwerb schwer und ich stotterte. Dann aber wurde mir die Musik zur natürlichen Ausdrucksform und ich begann im Sinne Augustinus‘ einen Dialog mit mir selbst zu führen. Diesen Dialog vollzog ich durch Musik in meinem Kopf und wurde so als kleines Kind zum Instrument einer Konversation mit mir selbst.
In Wien erzählte man sich um 1900 den jüdischen Witz von einer jungen Mutter mit ihren Buben im Matrosenanzug im Volksgarten, die einem alten Bekannten auf die Frage, wie alt denn ihre Söhne seien, antwortete: «Der Arzt ist sechs und der Rechtsanwalt ist vier»! Wie konnten Sie Ihre Eltern überzeugen, etwas Anderes als etwas «G’scheites» zu studieren?
Botstein: Meine Eltern machten sich, wie alle Emigranten-Eltern, Sorgen um unsere Karrieren in den Vereinigten Staaten. Natürlich hatten sie sich gewünscht, dass auch ich einen «gescheiten», praktischen Beruf ergreifen wurde. Sie verstanden aber bald, dass Amerika in den 1950er Jahren ein Ort mit guten Chancen für europäische Einwanderer war, auch für Juden. Da ich der Jüngste in der Familie war, kamen meine Eltern bei mir wohl schon leichter damit zurecht.
Hat dieses europäische Erbe dann auch Ihren Zugang zur klassischen Musik beeinflusst?
Botstein: In einem speziellen Sinn schon. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der ich keinen Einblick in die Geschichte meiner eigenen Eltern hatte, zum Beispiel in welche Schulen sie gegangen waren – die meines Vaters war ein zionistisches Gymnasium in Polen. Für mich wurde die Vergangenheit zu einem Mysterium, und ich war sehr an der verschwundenen Vergangenheit interessiert, aus der wir hervorgegangen waren. Mein Vater war der einzige Überlebende seiner Familie. Als Kind lernte ich, wie leicht es ist, Menschen mit der Ausnahme von wenigen aus der Erinnerung zu tilgen. Auch unter den Emigranten: In Amerika sprach jeder von Einstein, Schönberg und Max Reinhardt. Was aber geschah mit den anderen, den bedeutenden Künstlern, Wissenschaftlern, Komponisten, Schriftstellern, aber auch Ärzten und Rechtsanwälten, die nicht weltberühmt geworden waren, wie waren ihre alten und neuen Leben? So wurde ich ein Fan der «Underdogs», und während ich also Musik studierte, wurde mir bewusst, dass die Geschichte in der Frage, was «große» Kunst ist, nicht die Wahrheit spricht. Wir alle lernen das lächerliche Klischee des «test of time». Aber es ist nicht der «test of time», der den Status von Beethovens 9. Symphonie als ein großes Musikstück rechtfertigt, und Beethoven (und Schubert übrigens auch) war nicht der einzige, der in den 1820er Jahren großartige Musik schrieb. So wurde ich wild entschlossen, für die Unterrepräsentierten und zu Unrecht Vergessenen zu kämpfen.
Netzwerke früherer Zeiten aufzeigen
Ich fragte mich, auf der Basis eines thematischen Algorithmus, wen Beethoven für einen großen Komponisten hielt: Cherubini! Wann haben wir zuletzt etwas von Cherubini gehört? Chopin verehrte Ferdinand Ries. Und er verehrte Meyerbeer. Meyerbeer ist überhaupt ein gutes Beispiel: unbarmherzig aus der Operngeschichte gestrichen. Anton Rubinstein, gleich nach Tschaikowski der berühmteste russische Komponist seiner Zeit, vom Repertoire eliminiert. Und warum werden die Werke von Karl Amadeus Hartmann, einem der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, nicht öfter gespielt? Die Musikgeschichte auf eine wahrheitsgetreuere Weise zu schreiben und einer neuen Generation – meiner Generation – einen breiteren Zugang zur Vergangenheit zu ermöglichen, indem ich die reichen musikalischen Netzwerke früherer Zeiten wieder aufzeige. Ich wollte nach vergrabenen Schätzen suchen, von denen es viele gibt. Wenn wir eine lebendige neue Musik wollen, müssen wir die Geschichte der Musik in einer lebendigen Weise darstellen. In der Geschichte müssen wir die Bezüge zwischen den Komponisten aber auch zwischen Musik und anderen kulturellen Ausdrucksweisen, der bildenden Kunst, Architektur, nicht zuletzt aber auch mit der Politik, Philosophie oder Theologie finden.
Am Campus Grafenegg arbeiten Sie vor allem mit Musikerinnen und Musikern, die gerade ihre ersten Schritte in die professionelle Karriere setzen. Was können Sie diesen Menschen neben der verstärkten Kontextualisierung von Musik mitgeben? Welche Erfahrungen werden Sie vermitteln?
Botstein: Meine Karriere ist untypisch, ich habe mich nicht – militärisch ausgedruckt – durch das Zentrum gekämpft und auch keinen konventionellen Weg eingeschlagen, sondern immer von der Seite angegriffen. Meine Erfahrung muss daher nicht für jeden relevant sein, aber ich habe eine wichtige Lektion gelernt: Du wirst dich als Künstlerin oder Künstler nur durchsetzen, wenn du etwas vorhast. Es reicht nicht aus, exzellent in dem zu sein, was du machst. Du musst ein klares Ziel haben. Und wenn du dich von allen anderen unterscheiden willst, musst du eine Idee haben und gewillt sein, für diese Idee etwas zu riskieren. Man kann nicht durch Nachahmung Karriere machen!
Junge Musikerinnen und Musiker stehen heute unter einem großen Konkurrenzdruck. Wie können sie diese Situation zu ihrem Vorteil nutzen?
Botstein: Anders als im 20. Jahrhundert werden Musiker in Zukunft multiple Auftraggeber haben, sie werden quasi als unabhängige Entrepreneure erfolgreich sein müssen. Als Ausführende, Lehrer, Orchestermusiker oder Solisten müssen sie sich ihren eigenen Draht zur Öffentlichkeit erarbeiten, mit neuen Ideen, neuem Repertoire, neuen Beziehungen, neuer Musik aus der Gegenwart und Geschichte. Ein Teil der Erfahrungen am Campus Grafenegg wird daraus bestehen, Führungspersönlichkeiten zu fordern, einige sind es ja schon. Führungspersönlichkeiten, die ihre eigenen musikalischen Communities, ihre eigenen Schulen oder Ensembles dann beeinflussen.
Wie wird dieser Draht zur Öffentlichkeit hergestellt? Campus Grafenegg ist ja selbst eine hoch öffentliche Unternehmung.
Botstein: Zuerst muss man etwas so zur Aufführung zu bringen, dass es das Publikum elektrisiert. Das wichtigste dabei ist, Kontakt mit diesen Zuhörern aufzubauen. Wir erwarten am Campus Grafenegg sowohl ein traditionelles Publikum als auch Menschen, die erstmals ins Konzert gehen, sowohl jüngere als auch altere. Wir wollen sie anstecken, wir wollen einen spannenden Rahmen zur Verfügung stellen, in dem alle aufeinander reagieren können, eine Gemeinschaft begründen können. Wir werden sowohl mit Musikern als auch mit dem Publikum sprechen, sie in Diskussionen verwickeln. Man wird sich am Campus Grafenegg nicht eine Konzertkarte kaufen, um sich zu isolieren. Nach einer Aufführung, einer Diskussion, nach einem Konzert oder nach einer der hochkarätig besetzten Round-Table-Diskussionen, werden die Besucher merken, dass sie dazu beigetragen haben, etwas zu komplettieren. Hier gibt es keine Musik ohne Zuhörer. Die Zuhörenden vervollständigen das Werk, in realer Zeit an einem realen Ort.
Was wünschen Sie sich für die Arbeit am Campus Grafenegg?
Botstein: Wir wollen zeigen, dass, wenn wir die Geschichte befragen und gleichzeitig etwas Neues wagen, die Menschen kommen und auch wiederkommen, sich die Publikumsstruktur verbreitern wird. Wir gehen ja noch in Konzerte mit genaugenommen demselben (wenn nicht sogar einem weniger breit aufgestellten) Repertoire wie unsere Eltern. In Wirklichkeit, wenn ich das Programm der New York Philharmonic mit dem aus den Jahren von Mitropoulos, Bernstein und Boulez vergleiche, ist es sogar noch weniger abenteuerlich. Wie langweilig! Deshalb wünsche ich mir nichts weniger, als dass der Campus Grafenegg ein Treffpunkt einer internationalen Wiedergeburt der Musikkultur wird, das das Neue in Vergangenheit und Gegenwart einschließt. Ein Ort, wo die Menschen sagen: Da müssen wir hin, wir müssen die Karten jetzt kaufen, nicht morgen.
Das Gespräch führte Werner Hanak
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