In Grafenegg wird Musikvermittlung und die Förderung der jungen Generation groß geschrieben – vom Familientag über den Campus Grafenegg bis hin zum Grafenegg Festival. Leonard Bernstein, der heuer seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, war ein Pionier in diesen Bereichen. Sein Neffe Michael erinnert sich in folgendem Blog-Beitrag an dessen pädagogische Begabung. Musik von Leonard Bernstein ist in Grafenegg das nächste Mal im Rahmen der Sommernachtsgala sowie bei einem «Hommage-Konzert» des Tonkünstler-Orchesters am 25. August zu erleben.
Von Michael Bernstein
Das vielleicht größte Dilemma, mit dem sich mein Onkel Leonard Bernstein während seiner vielseitigen Karriere konfrontiert sah, war die Wahl zwischen Dirigieren und Komponieren. War er auf Konzertreisen, sehnte er sich nach der Zeit der Stille und Ruhe, die er zum Komponieren brauchte. Gönnte er sich von den Podien der Welt ein Jahr Auszeit, vermisste er die soziale Interaktion und Aufregung (und wenn wir ehrlich sind, auch die Verehrung), die ein Maestro der besten Orchester der Welt erlebte.
Dabei wissen die meisten wahrscheinlich gar nicht, dass sowohl das Dirigieren als auch das Komponieren nur seine Nebentätigkeiten waren. Hauptsächlich und zu jeder Zeit war er Lehrer. Lenny unterrichtete Musik, ob er mit den Wiener Philharmonikern Mahler einstudierte oder eine Symphonie von Copland einem Studentenorchester vorstellte. Er hielt sich dabei nicht nur an die Noten und Einträge der Partitur, sondern ließ oft auf unterhaltsame Weise Historisches, Literarisches und Philosophisches in seine Proben einfließen – was auch immer den Musikern helfen würde, den Gesamtzusammenhang der Komposition besser zu verstehen.

Bernstein in der Pause eines Young People’s Concert, 1960.
Viele Bücher über Leonard Bernstein (besonders das meines Vaters *) erzählen die Geschichte unserer Familie. Lennys Vater (mein Großvater) Samuel stammte aus einer langen Reihe von Rabbinern im jüdischen Ansiedlungsrayon des russischen Zarenreichs ab. Sams Vater erwartete von seinem Sohn, dass er den Talmud studierte, damit auch er Rabbiner werden würde. Sam jedoch ließ seine Eltern und Geschwister in Beresdiw zurück und wanderte nach Amerika aus, wo er schließlich ein sehr erfolgreiches Großhandelsgeschäft für Schönheitsartikel aufbaute. Sam erwartete, dass sein ältester Sohn seine Firma weiterführen würde, aber auch Lenny rebellierte und wählte stattdessen das Leben eines Künstlers.
Die Ironie der Geschichte ist, dass Lenny gewissermaßen der «Rabbi» wurde, zu dem sein Großvater Sam gern gemacht hätte! Im Wesentlichen ist ein Rabbi ein Lehrer. Was Lenny zu einem großartigen Lehrer machte, war seine unersättliche Liebe zum Lernen. Meine Cousine Jamie (Lennys ältestes Kind) schrieb: «Er war ein geborener Student, der es kaum erwarten konnte zu erzählen, was er gelernt hatte.» In einer Fernsehdokumentation mit dem Titel «Teachers and Teaching: An Autobiographical Essay» sagt Lenny: «Wenn ich lehre, lerne ich. Wenn ich lerne, lehre ich.»
Lenny hatte das Glück, große Mentoren wie die Dirigenten Serge Koussevitzky und Dimitri Mitropoulos sowie die Komponisten Aaron Copland und Randall Thompson gehabt zu haben. Er war auch mit dem Wunsch und dem Talent gesegnet, sein Wissen mit anderen zu teilen – und zwar auf eine leicht verständliche Art und Weise, die gleichzeitig seine «Schüler» auf sein eigenes hohes Niveau brachte. Sein Enthusiasmus, profundes Wissen und seine Eloquenz machten seinen Unterricht faszinierend und inspirierend.
Er hatte auch sonst Glück: Seine Karriere fiel mit dem Aufkommen der Massenmedien zusammen; er war ein eleganter Redner, der nicht arrogant wirkte, und er war ein fescher Mann. Diese Elemente waren entscheidend für den Erfolg seiner im Fernsehen übertragenen Musik-Bildungsprogramme und Konzert-Vorträge. 1954 brachte der erste seiner im Fernsehen übertragenen «Omnibus»-Auftritte den amerikanischen Zuschauern näher, was Beethoven so besonders macht.
Der Erfolg dieser Kulturserie und seine Ernennung zum Musikdirektor des New York Philharmonic Orchestra führte zu seinen berühmten «Young People’s Concerts» mit über 50 Übertragungen im TV-Hauptabendprogramm zwischen 1958 und 1972. Lenny zählte diese Konzerte zu seinen liebsten und wichtigsten Aktivitäten. Für eine ganze Generation von klassischen Musikerinnen und Musikern waren diese Fernsehübertragungen (oder Live-Konzerte) der Funke, der ihre zukünftige Karriere entfachte. Sie trugen auch dazu bei, ein breit gefächertes Publikum für klassische Musik zu schaffen.

Young People’s Concerts, Carnegie Hall New York, 1960,
Trotz der Bezeichnung «Jugendkonzerte» vereinfachte Lenny diese Vorträge für Kinder kaum merkbar. Seine Vorträge zu so hochkarätigen Themen wie «Was bedeutet Musik? », «Wer ist Gustav Mahler? » oder «Musikalische Atome – Die Intervalle» waren für die Eltern ebenso informativ. Lenny brachte auch populäre Musik auf das Niveau der Klassik, ob er die neuesten Popsongs sang oder Folk- und Jazzmusiker auf die Konzertbühne brachte.
In den frühen 1970er Jahren waren seine «Norton Lectures» – eine Reihe von Unterrichtsstunden, die er an der Harvard University für das Fernsehen filmte – sicherlich auf ein akademisches Publikum ausgerichtet. Doch sogar diese appellieren an den weniger anspruchsvollen Betrachter (mich eingeschlossen), der zumindest seine Zehen in die unendlich tiefen Qualitäten der Musik tauchen möchte.
Leider war ich zu jung, um solche Konzerte live gesehen zu haben, aber ich habe viele von ihnen auf DVD oder Ausschnitte davon online angesehen. Glücklicherweise habe ich persönliche Erinnerungen an Lenny. Sei es, dass ich seinen Konzertproben beiwohnte, er das Pessach-Fest unserer Familie leitete, ich ihm bei Veranstaltungen begegnete oder (was mit Abstand am seltensten vorkam) ich mit ihm allein Zeit verbringen durfte.
An einen besonderen Abend im August 1985 erinnere ich mich besonders gern. Es war in Tanglewood, dem Ort der Sommerkonzerte des Boston Symphony Orchestra (BSO) in den Berkshire Mountains im Westen von Massachusetts. Tanglewood ist zugleich ein «Sommerlager» für ausgewählte junge Musikerinnen und Musiker. Dort erhielt Lenny in den 1940er Jahren (zusammen mit seinen Kollegen Aaron Copland, Ned Rorem und Lukas Foss) seine wertvollste postgraduale Musikausbildung, und er wurde Serge Koussevitzkys Schützling. Lenny kehrte fast jeden Sommer zurück, um sowohl das BSO als auch das Studentenorchester zu dirigieren und Dirigier-Meisterkurse zu geben.

Michael Bernstein mit seinem Onkel, 1980er Jahre
Ich arbeitete in besagtem Sommer als «Guide» in Tanglewood, und der Höhepunkt der Saison für alle war Lennys zweiwöchiger Aufenthalt dort. Lenny war in einem gemütlichen Cottage in den Berkshire mountains von Massachusetts untergebracht, und ich besuchte ihn, wenn wir beide frei hatten (was nicht sehr oft der Fall war). An einem Abend saßen wir beide allein beim Abendessen, bei dem wir uns den letzten Tanglewood-Klatsch teilten und Bobby McFerrins neuem Hit zuhörten: «Don’t worry, be happy!» Lenny trug mir dann fast auswendig das brillante «Gedicht vom weißen Ritter» aus Lewis Carrolls «Alice im Spiegelland» vor – das war für mich pure Glückseligkeit.
Später hörten wir das BSO-Konzert im Radio, das live aus Tanglewood übertragen wurde. Lenny führte seinen musikalisch nicht allzu bewanderten Neffen durch einige wesentliche Themen und Strukturen von Tschaikowskys 6. Symphonie. Seine Erklärung hatte gerade genug Intensität, um mich zu inspirieren, ohne mich mit zu viel Theorie zu ermüden. Er erklärte mir zum Beispiel den Puls des zweiten Satzes: Es ist ein 5/4 Takt, abwechselnd gezählt 3 + 2 und 2 + 3. Wie jeder glückliche Mensch, der mit Lenny einen solch intimen Moment genossen hatte, fühlte ich mich zu seinem genialen Niveau erhoben, anstatt mich wie ein ignoranter Dummkopf zu fühlen. Dies war wahrscheinlich Lennys größtes Talent.

Bernstein mit Dirigierstudenten, Tanglewood, summer 1948
Auf meiner Reise durch Europa ein paar Jahre später logierte ich während der Salzburger Festspiele bei Lenny und hatte das Privileg, seiner Probenarbeit mit den Wiener Philharmonikern und Sibelius 5. Symphonie beizuwohnen. An einem Abend nahm er mich mit, um Schönbergs «Moses und Aaron» im Festspielhaus zu sehen. Lennys fortlaufenden, nicht gerade leisen Kommentare und sein Mitsummen während der gesamten Oper verärgerten unsere Sitznachbarn (von denen jedoch keiner den Mut hatte, den Maestro darauf anzusprechen). Für mich war seine geduldige Erklärung der Handlung und des Dialogs ein Glücksfall, der mich davon abhielt, in Schönbergs undurchsichtigem 12-Ton-Epos völlig verloren zu sein. Und vielleicht haben ja doch auch manche unserer Sitznachbarn davon profitiert!
Lennys Vermächtnis als Pädagoge wird heute fortgesetzt. Seit dem Tod seines Vaters Leonard Bernstein ist mein Cousin Alexander stark in die Förderung von ARTFUL LEARNING® involviert, einem Schulmodell, das auf Lennys Vision basiert, «Musik und die visuellen und darstellenden Künste einzusetzen, um dem Schüler eine lebenslange Liebe zum Lernen zu vermitteln». Dieses Modell hat bis heute mehr als eine Viertelmillion Schülerinnen und Schüler erreicht und konnte deren akademischen Werdegang erfolgreich unterstützen.
Einige von Lennys eigenen Schützlingen haben sein Vermächtnis der Präsentation von Konzertvorträgen fortgesetzt, und seine eigene Tochter Jamie schreibt, produziert und führt Bildungskonzerte für jedes Alter und jeden kulturellen Hintergrund auf.
Und bestimmt ist auch der Campus Grafenegg inspiriert von Tanglewood, dem amerikanischen Festival, dem Lenny zu einer der heute bekanntesten Institutionen für fortgeschrittene Musikausbildung verhalf. Wer weiß? Vielleicht wird diesen Sommer ein Leonard Bernstein des 21. Jahrhunderts in Grafenegg entdeckt! Wir werden sehen. Die Welt könnte gerade heutzutage ein paar mehr Lennys ganz gut gebrauchen!
* Die Bernsteins (engl. Family Matters), Burton Bernstein
KONZERT-TIPP: BERNSTEIN-HOMMAGE
TONKÜNSTLER-ORCHESTER NIEDERÖSTERREICH
PATRICIA PETIBON, Sopran
ELISABETH KULMAN, Mezzosopran
PETER KIRK, Tenor
LEONARD ELSCHENBROICH, Violoncello
CHRISTOPH WAGNER-TRENKWITZ, Moderation
YUTAKA SADO, Dirigent