Vor dem Eröffnungskonzert des Grafenegg Festivals mit Benjamin Brittens «War Requiem» fand am 17. August in der Reitschule unter der Titel «Gedenken – erinnern – gestalten» eine Veranstaltung des Landes Niederösterreich statt. Wir geben im Folgenden Rudolf Buchbinders Begrüßungsrede in Auszügen wieder.
Von Rudolf Buchbinder
«Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: warnen», so schrieb es Wilfred Owen. Warnen vor neuen Kriegen, vor neuem Leid, vor neuem Chaos – warnen vor dem Menschen, der sich in seiner ganzen Unmenschlichkeit zeigt. Und darum geht es heute.
Auch das «War Requiem» von Benjamin Britten warnt uns. Es ist ein langes, aber kein monumentales Werk. Ein Requiem der Einkehr, der Trauer, des Gedenkens.
«Was kann ein Musiker heute tun?» – Das ist, was ich mich oft frage. Warnen? Mit Sicherheit! Warnen vor Radikalismus, vor Extremen. Warnen, wenn Politik zu emotional wird. Aber ist das nicht auch absurd? Ist der Mut zum Radikalen, der Mut, das Extreme zu wagen und der Mut, emotional zu sein, nicht Grundlage für jede gute Musik?
Nein! Das ist ein Trugschluss: Musik ist Radikalität, die von Klugheit gezähmt wird, ihre Extreme müssen wohl kalkuliert sein und Emotionalität allein würde jede Musik zerstören. Musik ist immer auch Form, Gedanke und Struktur. Sie verlangt Wissen. Wissen über die Musik an sich und über die Vergangenheit.
«Alles, was ein Musiker tun kann», würde ich Wilfred Owen heute vielleicht erweitern, ist: Zu wissen, zu denken, zu überlegen, die Vergangenheit zu kennen – und all das in Gefühl verpackt zu vermitteln.
Mit anderen Worten: Was wir heute tun können, ist: «Gedenken, erinnern und: gestalten.»
Nur wer die Vergangenheit kennt, wer erinnern kann und gedenken, kann auch die Zukunft positiv gestalten, aus alten Fehlern lernen und neue Visionen entwickeln. Die sind nicht immer leicht, nicht immer populär – sie erfordern Mut, gerade in Zeiten, in denen um Demokratie und Mitmenschlichkeit gerungen wird.
Benjamin Britten hat in seinem Requiem zwei Jahre miteinander verbunden, die auch heute bei unserer Gedenkveranstaltung im Zentrum stehen: 1938, das Jahr, in dem Österreich sich Hitler-Deutschland verschrieben hat. Jenes Jahr also, das als Wurzel eines der schlimmsten Kriege, einer menschenverachtenden Politik und der Dunkelheit der Menschlichkeit verstanden werden muss. Benjamin Brittens «War Requiem» wurde 1962 in der von Krieg zerstörten und wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry uraufgeführt.
Aber auch das Jahr 1918 ist wesentlich für das «War Requiem»: In diesem Jahr starb Wilfred Owen in der zweiten Schlacht an der Sambre. Er verlor sein Leben genau sieben Tage, bevor der Erste Weltkrieg zu Ende war. Seine Gedichte, die Joseph Lorenz gleich noch rezitieren wird, hat Benjamin Britten in sein «War Requiem» mitaufgenommen.
Meine Damen und Herren, alles, was ich als Musiker heute tun kann, ist an die Kraft und die Stärke der Musik zu appellieren, an ihre Möglichkeit, zu gedenken, zu erinnern und zu gestalten.
Und erlauben Sie mir in Zeiten, in denen die Welt vielleicht wieder etwas aus den Fugen geraten erscheint, eine persönliche Anmerkung: In der Musik gibt es keine Emotion ohne Ratio, keine Euphorie ohne Wissen, keine Vision ohne Vergangenheit – und ich glaube, all das gilt durchaus auch für die Politik.
Foto: Lukas Beck