Von Rotraud A. Perner
Die Missachtung der Zusammengehörigkeit von Leben und Sterben, von Geburt und Tod als natürlicher Einheit hat fatale Auswirkungen für unser gegenwärtiges und zukünftiges Leben: Lebensangst, Entfremdung vom Leben, von der Natur, Unsicherheit, Zukunftsangst, Gefühllosigkeit, die sich in leibseelischen Krankheiten ausdrücken. Jorgos Canacakis
Wenn man liebt, wirklich liebt, nicht nur wähnt zu lieben, sorgt man sich um diejenigen, die man liebt – weil man tief im eigenen Leib (Seele und Geist mitinbegriffen) spürt, wie es ihm oder ihr tatsächlich geht (auch wenn das besonders heutzutage von diesen oft abgestritten wird: von den einen, um den Liebenden Sorge zu nehmen, von anderen hingegen, um dem vorgegebenen Ideal von unerschütterlicher Selbstbeherrschung zu entsprechen).
Wenn man liebt, wirklich liebt, will man diejenigen, die man liebt, behüten – und das ganz besonders dann, wenn man spürt, dass sie gefährdet sind, egal aus welchen Gründen, solchen, die man ändern könnte und solchen, die man nicht ändern kann. Dann stellt sich die Frage: diese «Ursachen» abhalten – oder loslassen? Sich selbst verbal, vielleicht auch physisch zurückhalten – um die anderen nicht mit den eigenen Angstphantasien zu belästigen, eventuell auch deren Widerstände stärker zu provozieren? Oder anderen die (eigene) Wahrheit zumuten?
Leise & laute Trauer
Der griechisch-deutsche Gestaltpsychotherapeut und ausgebildete Opernsänger Jorgos Canacakis (*1935) hat viel zur Trauerbewältigung publiziert – vor allem zum Umgang mit Trauer in seiner, einer mediterranen Kultur, und er entdeckte Unterschiede: Im Gegensatz zu stumm Trauernden wird dort, wo laut geklagt wird wie bei den Trauerritualen der Myrolojistres von Mesa Mani, die singend ihre Trauer dichten, ihre Haare raufen und sich sogar das Gesicht zerkratzen, die Wiederaneignung der Fähigkeit zur Sinnaneignung im Leben und damit auch die Wiedererlangung von Lebensfreude verhältnismäßig schnell erlangt.
Canacakis schreibt: «Die Myrolojistra (Klagende) verhält sich wie die Protagonistin in den Tragödien der Antike. Sie ist fähig – so musste ich oft mit Erstaunen feststellen –, konzentriert und in Halbtrance ihre Gefühle, ihre Erfahrungen, ihre Beziehung zum Verstorbenen, die momentane Verfassung der Anwesenden, ihr Gedicht, ihre Trauer, ihre Stimme, Melodie und Rhythmus in einem kreativen Prozess zu einem zusammenhängenden Ganzen zu bringen: eine unglaubliche Leistung für Frauen, die oft Analphabetinnen sind.»
Was Canacakis da beschreibt, ähnelt dem, was einige Jahre später der ungarisch-US-amerikanische Psychologieprofessor Mihaly Csikszentmihalyi (* 1934) als «Flow» bezeichnete: eine totale Hingabe an das, was man tut – und das entsteht, wenn man aufhört, Kontrolle auszuüben, beispielsweise über das Geschehen ebenso wie über die eigene Reaktion. Im Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen kann das spontan geschehen: wenn sich das Herz weitet, um das Unerträgliche auszuhalten – den Schmerz gleichsam zu umfassen – und das Schicksal zu ertragen, und in der Liebe zu bleiben (anstatt mit dem Schicksal zu hadern).
Die Kunst des Loslassens
Nur wer wirklich liebt, trauert auch wirklich – wer nicht wirklich liebt, hat andere und durchaus schmerzliche Gefühle: identifiziert sich etwa mit phantasierten Leidenszuständen, sorgt sich um die eigene Zukunft oder auch «nur» nunmehr fehlende Unterstützung, hofft endlich auf Aufmerksamkeit, heischt nach Mitgefühl … alles durchaus realitätsgemäße und nachvollziehbare Reaktionen – bloß Liebe sind sie nicht. Sie sind und bleiben begrenzt. Nur wenn jemand erleichtert ist – wenn ein «Stein vom Herzen fällt» – wie oft beim Ende eines langen Siechtums, tritt auch diese Weitung auf. Wenige Menschen trauen sich das zuzugeben, dabei wäre das auch eine Form des heilsamen Loslassens – der Hingabe.
Musiker kennen diesen Zustand des Selbstvergessens, Komponisten, aber ebenso Schriftsteller, Meditierende, Betende. Trauerrituale, Trauermusik soll – und kann – helfen, in diesen «grenzenlosen» Zustand des Liebens zu kommen, wenn sie das enge – das zum Zurückhalten von Tränen verengte – Herz berührt. Flow kann auch im Fließenlassen von Tränen bestehen.
Csikszentmihalyi bringt als – triviales – Beispiel eine ideale Operation: «Die Art wie Chirurgie ausgeübt wird, blendet alle Ablenkungen aus und konzentriert alle Aufmerksamkeit auf die Prozedur. Der Operationssaal ist wie eine Bühne, auf der Scheinwerfer Handlung und Schauspieler beleuchten. Vor der Operation durchläuft der Chirurg die einzelnen Schritte der Vorbereitung: Waschen und das Anlegen bestimmter Gewänder – wie Sportler vor einem Wettkampf oder Priester vor einer Zeremonie. Diese Rituale haben praktische Bedeutung, aber sie dienen auch dazu, die Ausübenden von den Sorgen des Alltagslebens zu befreien und ihre Gedanken auf das bevorstehende Ereignis zu lenken.»
Egal, von wem den Text des «Stabat mater» stammt und egal auch, wer es vertont hat: das Werk stellt immer dessen Versuch dar, sich mit offenem Herzen in eine Situation einzufühlen, in der vieles Basales zusammentrifft, das wir wohl alle schon einmal im Kleinen erlebt haben – Ungerechtigkeit, Machtlosigkeit, Schmerz, aber auch Beistand und Treue – und das Wagnis, diese Gefühle auszudrücken.
ACHTUNG: Aufgrund der Corona-Virus-Krise wurden diese Veranstaltungen abgesagt!
17.00 UHR | REITSCHULE
BETRACHTUNGEN
ANDREA ECKERT, REZITATION
ROTRAUD A. PERNER und PAUL ZULEHNER im Gespräch mit DORIS HELMBERGER-FLECKL (Die Furche)
18.30 UHR | AUDITORIUM
KONZERT
TONKÜNSTLER-ORCHESTER
SOPHIE KARTHÄUSER, SOPRAN
CHRISTOPHER LOWREY, ALTUS
JONATHAN COHEN, DIRIGENT
Programm:
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL
«Silete venti» Motette HWV 242
Concerto grosso a-Moll op. 6/4
HWV 322
ANTONIO VIVALDI
«Cessate, omai cessate» Kantate für Alt, Streicher und Basso continuo
RV 684
GIOVANNI BATTISTA PERGOLESI
Stabat mater für Sopran, Alt, Streicher und Basso continuo
Fotocredit: Wolfgang Sauber / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)