Von Konstantía Gourzí, Composer in Residence 2020
Beethoven steht mir seit meiner Kindheit sehr nahe, und trotzdem war er für lange Zeit ungreifbar für mein Inneres. Er ist für mich ein Magnet mit starker Ausstrahlung, der auf einem Gipfel steht. Der Weg zu diesem Gipfel ist nicht beschildert und kein einfacher Spaziergang. Beethoven erweckt in mir Freiheit, Respekt, tiefe seelische Gefühle, die Sehnsucht zu fliegen, aber auch Strenge. Er schärft den Geist und schafft gesellschaftliches Bewusstsein. Seine Musik ist bis heute zeitlos. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebe, bin aber zutiefst dankbar, dass er hier war.
Auf der Suche nach dem Beethoven-Code
Als ich in meiner Jugend die Klavier-Sonaten spielte, wusste ich ziemlich bald, dass ich für die Entschlüsselung von Beethovens Musik einen Code brauchte. Ich spielte zwar alles «richtig», war aber unzufrieden mit meinen Interpretationen. Die harmonischen und rhythmischen Analysen halfen mir überhaupt nicht, mich mit der Musik vertraut zu fühlen.
Ich entschied mich daher für eine Pause mit seiner Musik, in der ich weder Beethoven spielte, noch hörte. Kurz danach geschah Folgendes: Ich war bei einer Hochzeitsfeier von Freunden eingeladen und stand vor einem Flügel, nebenan war eine große Bibliothek. Mein Blick fiel unbewusst direkt auf ein Heft mit Beethoven-Klaviersonaten. Ich nahm es wie magnetisiert, schlug zufällig die Seite mit der Sonate op. 101 auf und begann zu spielen. Ich spielte, ohne die Angaben von Zeit und Dynamik zu beachten, wählte sogar einen eigenen Rhythmus und eine eigene Dynamik. Und plötzlich tat sich vor mir ein vertrauter Weg auf. Ich hatte Herzklopfen und fühlte stark in mir, dass ich den jahrelang gesuchten Code plötzlich in der Hand hatte.
Ich war darüber glücklich und gleichzeitig sprachlos, wie die Dinge im Leben überraschend kommen können…

Konstantía Gourzí – Foto: Beatrice Schreiner
Beethoven komponierte für die Menschheit, er reagiert auf gesellschaftliche Themen, seine Musik «versetzt Berge», er bringt die Menschen zusammen, er erschüttert sie, er erweckt sie, er vereinigt sie. Alles das ist großartig! Die musikalische Art, wie er das macht, hat eine eigene, einmalig Stärke.
Ich bin sicher, dass die Menschheit Beethoven dringend nötig hat: er ist ein Mysterium, ihm gelingt es, die Musikwelt gleichzeitig zu verändern und zu erschrecken. Er ist eine vielseitige Persönlichkeit, da er sich auch für Philosophie, Literatur, Politik interessierte. Er komponierte streng dramaturgisch mit Motiven, die schnell einen Wiedererkennungswert haben, und seine Klänge sind gewaltig. Als Zuhörer und als Interpret wird man mit ihm reicher und tiefer. Jeder erkennt seine Größe. Jeder bewundert ihn.
Beethoven erweckt mit seinem musikalischen Nektar eine tiefe Sehnsucht, angefasst und berührt zu werden. Dieses Gefühl bleibt immer noch unverändert, aktuell und lebendig.

Rudolf Buchbinder und Konstantía Gourzí – Foto: Beatrice Schreiner
Trompetenkonzert trifft Tripelkonzert
Bei der Eröffnung des Grafenegg Festivals wird mein neues Trompeten-Konzert «Ypsilon, A Poem in Five Scenes» dem Tripelkonzert von Beethoven gegenübergestellt. Es ist für mich eine große Ehre und eine riesige Freude, bei der Eröffnung des Festivals ein Uraufführungswerk von mir dirigieren zu dürfen. Diese Entscheidung von Rudolf Buchbinder und dem Team des Festivals macht mich glücklich und erfüllt mich mit Hoffnung, denn die Uraufführung einer lebenden Komponistin gemeinsam mit der Musik Beethovens ist ein kraftvolles Statement, ein starkes Signal. Wir sind in einer neuen Zeit angekommen – einer Zeit des Vertrauens, der Wahrnehmung des Lebens im Jetzt und des «Wir».
Auch wenn ich während des Komponierens von «Ypsilon» nicht konkret an Beethovens Tripelkonzert gedacht habe und mich nicht von dieser Musik bewusst beeinflusst haben lasse, gibt es eine deutliche Verwandtschaft der beiden Werke: die Melodien. In «Ypsilon» gibt es gegensätzliche Klänge, die immer wieder durch das durchgehende Element der Melodie vereint werden.
Der Titel «Ypsilon» ist von dem griechischen Buchstaben Y inspiriert, der mehrere Bedeutungen hat. Die zunächst auffälligste ist der Buchstabe selbst, der wie ein Mensch mit nach oben gestreckten Händen steht. Die Übersetzung des Wortes «Ypsilon» aus dem Griechischen heißt das Hohe, aber auch gleichzeitig das Hohe anzuschauen.
KONZERT-HINWEIS:
Fr, 14. August 2020 ∙ 19.30 Uhr
FESTIVAL-ERÖFFNUNG
Tonkünstler-Orchester
Simon Höfele Trompete
Konstantía Gourzí Dirigentin, Composer in Residence 2020
Emmanuel Tjeknavorian Violine
Harriet Krijgh Violoncello
Rudolf Buchbinder Klavier, Leitung
Programm:
LUDWIG VAN BEETHOVEN: Ouvertüre zum Ballett «Die Geschöpfe des Prometheus» op. 43
KONSTANTÍA GOURZÍ: «Ypsilon, A Poem for Trumpet and Orchestra in Five Scenes», Auftragswerk des Grafenegg Festivals (Uraufführung)*
LUDWIG VAN BEETHOVEN: Tripelkonzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester C-Dur op. 56
*Mit Unterstützung der Freunde des Grafenegg Festivals