Musik zum Fest von Bach und Händel stehen am Programm des Weihnachtskonzerts von Ton Koopman und dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, das am 6. Dezember in Grafenegg ohne Publikum aufgenommen wird. Die Ausstrahlung auf ORFIII und Radio Niederösterreich erfolgt am 13. Dezember, ein Streaming auf myfidelio.at ist in Planung.
Von Wolfgang Stähr
Einzug in Jerusalem
Nach einigen, vielleicht seinen glücklichsten Jahren als Hofkapellmeister in Köthen wechselte Johann Sebastian Bach 1723 in das Amt des Leipziger Thomaskantors, das er von allen seinen städtischen, höfischen und kirchlichen Positionen am längsten, wenngleich nicht am liebsten innehatte. Aber eine prinzipienfeste Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Musik galt für ihn ohnehin nicht, weder in seinem Schaffen noch in seinem Denken. Insofern blieb der Kantor stets auch Kapellmeister. In Bachs Kantate BWV 62, die für den ersten Sonntag im Advent bestimmt war und am 3. Dezember 1724 im Hauptgottesdienst der Thomaskirche musiziert wurde, dreht sich alles um ein altes Kirchenlied: «Nun komm, der Heiden Heiland», Martin Luthers deutsche Fassung des lateinischen Hymnus «Veni redemptor gentium», die zu vorweihnachtlicher Zeit in aller Munde war – oder zumindest in allen protestantischen Mündern.

Die Leipziger Thomaskirche 1749. Kupferstich (c) H.-P.Haack
Das Evangelium, das im Adventsgottesdienst unmittelbar vor Bachs Kantate verlesen wurde (Matthäus 21, 1-9), spricht vom Einzug Jesu in Jerusalem, von der Menschenmenge, die den Verheißenen unter Hosianna-Rufen feierlich begrüßt. «Nun komm, der Heiden Heiland», die Eingangsstrophe des Chorals, wird in Bachs Komposition selbst wie ein hoher Gast, wie ein König oder ein Gesandter des Himmels empfangen. Der Sopran singt die vier Zeilen in überlebensgroßen, wie aus der Zeit gehobenen Notenwerten, aber die anderen Stimmen kommen ihm zuvor, sie eilen ihm voraus, wie die jubelnde Schar im Matthäus-Evangelium – «Vorimitation» lautet der paradoxe Fachbegriff, eine Vornachahmung.
Auch die folgende Tenorarie, vom tänzerischen Elan eines Passepied beschwingt, verrät Bachs Vorliebe für eine bildliche und fassliche Textauslegung. «Der höchste Beherrscher erscheinet der Welt», so verkündet es der Sänger, und Bach lässt ihn diesen Ruhmestitel in schier endlosen Melismen vortragen – verzierter Gesang mit theologischem Tiefsinn. Die zweite Arie, für den Bass und die Bässe (die hohen Streicher sekundieren in der Oktave), «Streite, siege, starker Held!», steigert den Vokalpart zu ozeanisch rollenden, wütenden, schäumenden Koloraturwogen, während die Instrumente sich mit einem, wie Albert Schweitzer das nennt, «Tumultmotiv» austoben. Aber nach diesem martialischen Solo senkt sich der himmlische Frieden auf das Gemüt im Duett-Rezitativ des Soprans mit dem Alt, das von auratischen Streicherklängen erleuchtet wird: «Die Dunkelheit verstört uns nicht und sahen dein unendlich Licht.» Mit dem Lob Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, mit der letzten Strophe aus Luthers Lied endet auch Bachs Kantate.
Trompeten im Kaffeehaus
Die Ouvertüre in D-Dur BWV 1068 komponierte Bach im Jahr 1718 zunächst keineswegs als «Orchestersuite», sondern vielmehr für eine kleine, aber feine Besetzung mit Streichern und Continuo: für die «CammerMusici», die Elite der Hofkapelle von Köthen, deren Leitung Bach seit wenigen Monaten erst innehatte. Sein neuer Dienstherr, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, hatte auf der standesüblichen Kavalierstour quer durch Europa seine Liebe sowohl zur französischen als auch zur italienischen Musik entdeckt, eine bipolare Leidenschaft, wie sie allerdings seinerzeit in Deutschland weit verbreitet war und das musikalische Ideal des «vermischten Geschmacks» hervorbrachte. Auch der Hofkapellmeister Bach folgte der «réunion des goûts». Er schrieb die D-Dur-Ouvertüre, den Einleitungssatz der Suite BWV 1068, nach dem französischen Modell, das Jean-Baptiste Lully kreiert hatte, der Hofkomponist des Sonnenkönigs Louis XIV: Ein pompöser und vornehmer Rahmenteil, charakterisiert durch den punktierten Rhythmus, umschließt einen raschen, fugierten Binnensatz. Bach jedoch «vermischte» die zentrale Fuge französischer Konvention mit dem Kontrastprinzip des italienischen Concerto, dem Wechselspiel aus Ritornell und Episoden. Und diese doppelte, französisch-italienische Perspektive behielt er auch in den folgenden Sätzen bei. Um nur das prominenteste Beispiel zu wählen: Das berühmte «Air» ließe sich im Sinne der zeitgenössischen französischen Suite dem Typus der «Plainte» vergleichen, einem instrumentalen Klagelied; die ausdrucksvoll verzierten Linien der Oberstimmen über dem traumwandlerisch fortschreitenden Bass orientieren sich hingegen an den Triosonaten des Italieners Arcangelo Corelli.
Erst Jahre später in Leipzig rüstete Bach seine D-Dur-Ouvertüre um drei Trompeten, zwei Oboen und Pauken nach. Aber nicht für einen prachtliebenden Aristokraten, sondern für das Publikum seiner öffentlichen Konzerte, die ganz bürgerlich in einem Kaffeehaus stattfanden. Ab 1729 trat Bach allwöchentlich mit seinem Collegium musicum auf, einem bunt gemischten Ensemble aus Studenten der Leipziger Universität, Privatschülern des Thomaskantors, reisenden Virtuosen und den Ratsmusikern, die über das Privileg zum Spiel der Trompete verfügten und deshalb für «festliche Barockmusik» unentbehrlich waren. Nicht einem Schlossherrn – dem zahlenden Leipziger Publikum huldigten Bachs Trompeten.
Der ganze Glaube spricht daraus
Dies natalis. Die am 25. Dezember, dem römischen Fest der «Unbesiegbaren Sonne», begangene Weihnacht feiert den Geburtstag aller Geburtstage: die Ankunft des göttlichen Kindes, des kindlichen Gottes, des brüderlichen Königs und dienenden Herrn, von dem die Weihnachtslieder aller Länder und Zeiten singen und sagen. Ein «toller Tag», eine verkehrte Welt: «Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen», singt Maria, fast selbst noch ein Kind, im Glücksgefühl der Verheißungen. Aber vor die Erfüllung hat die Kirche das Warten gesetzt. Auf alle Prophetie und Verkündigung folgt zunächst einmal die Prüfung der Geduld, das Abwarten, Erwarten, Erhoffen. Der Glaube?

Autograph der ersten Seite des Weihnachtsoratorium
«Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, / Rühmet, was heute der Höchste getan!» Können wir uns die Adventszeit und die Weihnachtsfeiertage überhaupt noch vorstellen ohne die Musik Johann Sebastian Bachs? Das Weihnachts-Oratorium ist längst zum populärsten Werk des Leipziger Thomaskantors geworden, und nur mit Verwunderung liest man, dass die Nachwelt diese Komposition erst vergleichsweise spät «entdeckte»: 1857 veranstaltete die Berliner Singakademie unter ihrem damaligen Leiter Eduard Grell die erste Wiederaufführung nach Bachs Tod. Ursprünglich war dieses (vom Komponisten selbst so bezeichnete) Oratorium freilich nicht für den Konzertsaal, sondern für die Kirche, für den Gottesdienst gedacht. Seine Vollendung im Jahr 1734 geschah in Hinblick auf eine ganz bestimmte Sonn- und Feiertagsfolge. Die ersten drei Teile erklangen an den drei Weihnachtstagen in den Haupt- bzw. Nachmittagsgottesdiensten «zu St. Nicolai und St. Thomae», den beiden Leipziger Hauptkirchen. Sie umfassen die vertraute Weihnachtsgeschichte aus dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums. Der vierte Teil wurde an Neujahr musiziert, das nach lutherischem Verständnis als Fest der Beschneidung und Namensgebung Jesu gefeiert wurde. Am Sonntag nach Neujahr führte Bach Teil V auf (Matthäus 2, 1-6: Die Weisen aus dem Morgenland kommen nach Jerusalem; der alarmierte König Herodes versammelt die Hohenpriester und Schriftgelehrten). Mit dem Epiphaniasfest am 6. Januar endete der sechsteilige Zyklus des Weihnachts-Oratoriums, mit der Fortsetzung der Geschichte von den drei Weisen, die das Kind in der Krippe zu Bethlehem anbeten.
«Mir war, als sei alles, was mir Musik zu geben vermag, darin enthalten», notierte der Schriftsteller Julien Green 1965 in seinem Tagebuch, nachdem er Bach gehört hatte. «Die formale Schönheit hat hier ihren allerhöchsten Grad erreicht, und der ganze Glaube spricht daraus. Das ist das Universum, in dem es mir behagt. Man kann noch so viele Fehler begangen haben, immer ist da jene Freude Gottes spürbar, die hindurch weht wie der Wind durch die Bäume.»
Das vereinte Europa
Anders als sein Landsmann und Zeitgenosse Bach blieb Georg Friedrich Händel nicht in Deutschland: nicht in Halle, nicht in Hamburg, nicht in Hannover. 1713 wurde «George Frideric Handel» durch die britische Queen Anne Stuart mit einer lebenslangen königlichen Pension von £ 200 belohnt, wenige Jahre später von ihrem Thronfolger George I zum «Composer of Musick for his Majesty’s Chappel Royal» erhoben. Wenn in prächtigster Festtagsstimmung seine «Musick for the Royal Fireworks» HWV 351 erklingt, erstrahlt Großbritannien in stolzer Größe und schönstem Glanz. Oder vielleicht doch nicht? Die «Feuerwerksmusik», komponiert zur Feier des Aachener Friedens, der den Österreichischen Erbfolgekrieg beendete, wurde am 21. April 1749 in den Londoner Vauxhall Gardens vor angeblich 12.000 Menschen erprobt und danach am 27. April im Green Park nahe dem St. James’s Palace vor dem König (mittlerweile George II) mit allem «pomp and circumstance» zelebriert, ein pyrotechnisches Spektakel, von einem monumental besetzten Orchester mit jeweils neun Trompeten und Hörnern, 24 Oboen, 12 Fagotten, einem Kontrafagott, drei Paar Kesselpauken und Militärtrommeln lautstark unterstützt. Noch im Mai 1749 richtete Händel für eine Aufführung der «Feuerwerksmusik» im geschlossenen Saal die heute gebräuchliche Fassung mit Streichern und Bläsern ein.

Aufbauten zur Feuerwerksmusik im Londoner Green Park
Als Händel, ab 1727 Staatsbürger des Vereinigten Königreichs, dieses Paradestück britischer Macht und Würde erdachte, orientierte er sich ganz selbstverständlich an der Kultur des ärgsten Kriegsfeindes, denn seine «Musick for the Royal Fireworks» hebt an mit einer zweiteiligen französischen Ouvertüre, wie sie der bereits genannte Jean-Baptiste Lully begründet hatte. Und auch die Fortsetzung, die Suite, verleugnet den französischen Ursprung keineswegs. Jean Sigismond Cousser, ein Schüler Lullys, hatte als erster solche Folgen stilisierter Tänze und programmatischer Sätze zusammengestellt und damit das Muster gelegt für die europaweit stilbildenden «Orchestersuiten». Um nun aber die Verwirrung noch auf die Spitze zu treiben, sei daran erinnert, dass Lully kein Franzose, sondern ein Italiener war, Giovanni Battista Lulli aus Florenz, und dass Cousser (ursprünglich Johann Sigismund Kusser) als Sohn ungarischer Eltern in Pozsony (Bratislava) zur Welt kam. Fassen wir zusammen: Ein deutscher Komponist schreibt in England eine Ouvertürensuite französischer Prägung, als deren Erfinder ein Italiener und ein Ungar gelten dürfen. Welch eine Ironie der Geschichte, jedenfalls der Musikgeschichte! Und so feiert dieses britische Feuerwerk das vereinte Europa – mit der Einsicht, dass zwischen Wurzellosigkeit und nationaler Kulturhegemonie ein weiter Raum bleibt: für die Musik, die Kunst und das heimatlose, heimatliebende Leben.
Übertragungstermine WEIHNACHTSKONZERT
ORF III: 13. Dezember 2020, 8.20 Uhr
Radio NÖ: 13. Dezember 2020, 20.04 Uhr
Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur; er verfasste Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption, über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler und publizierte Essays und Werkkommentare für die Festspiele in Salzburg, Luzern und Dresden, das Grafenegg Festival, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, für Rundfunkanstalten, Schallplattengesellschaften, Konzert- und Opernhäuser.