Der Japaner Toshio Hosokawa ist Composer in Residence des Grafenegg Festivals 2021. Sein Bestreben, mit der Natur eins zu werden, das Ich mit der Natur zu verschmelzen, steht in einer langen japanischen Tradition. Seit jeher herausgefordert wird diese Verbundenheit von Mensch und Natur jedoch durch die Gewalt der Elemente und andere Katastrophen. In einem Vortrag für das Musikfestival Bern 2020, der hier in Ausschnitten wiedergegeben ist, beschreibt Toshio Hosokawa, welchen Einfluss dieses ambivalente Verhältnis auf sein musikalisches Schaffen hat.
Von Toshio Hosokawa
Über das Thema «Musik und Natur» habe ich bereits 1995 vor der «Musicological Society of Japan» einen Vortrag gehalten. Dabei erläuterte ich die Essenz meiner Musik, und die Aussagen von damals haben mir auch in der Folgezeit als Leitfaden für meine kompositorische Arbeit gedient. In diesem Vortrag erzählte ich auch, dass ich meine Kindheit in einem von der Natur gesegneten Stadtteil von Hiroshima verbracht habe. Und man kann wohl sagen, dass die Beziehung zur Natur während dieser Zeit einen tiefen und nachhaltigen Einfluss auf mich und meine spätere Arbeit als Komponist ausgeübt hat. In ihrer traditionellen Kunst haben die Japaner schon immer intensiv mit der Natur interagiert und aus dem subtilen Kontakt mit ihr eine eigene Poesie und Musik erschaffen. Das versuche auch ich, der ich in unserer modernen Zeit lebe.
Kräftiger Atem, schlichtes Bambusrohr
Ein solcher Naturbezug lässt sich etwa in der traditionellen Musik für die japanische Shakuhachi-Flöte feststellen, die von den Lehren des Zen-Buddhismus geprägt ist. Der Spieler bläst mit kräftigem Atem in ein schlichtes Bambusrohr und erzeugt dabei sehr geräuschhafte Töne. Er zielt darauf ab, mit seinem Atem einen Klang hervorzubringen, der den Lauten der Natur, den Geräuschen des Windes nahekommt, und versucht, die Energie, die in den Tiefen der Natur verborgen ruht, mit seinem menschlichem Atem zum Ausdruck zu bringen. Da der Mensch ein Wesen der Natur ist, sind auch die Klänge der Musik, die er erschafft, eine Art von Klängen der Natur. Musik machen bedeutet dann, durch das Hervorbringen von Tönen und durch Singen ein Teil der Natur zu werden.
Hören Sie zunächst ein Beispiel für die von mir geliebte japanische Shakuhachi-Musik des 16. und 17. Jahrhunderts: die hier von Tadashi Tajima gespielte Komposition «San’an». Sie hat einen buddhistischen Inhalt:
In Ostasien wird gesagt, ein Kunstwerk sei ein «Ausdruck von Ki». «Ki» meint die Energie, die auf dem Grund des Universums fließt und dieses Universum erzeugt. Und ein Ausdruck, der mit diesem Energiefluss gut in Übereinstimmung gebracht ist, macht ein ausgezeichnetes Kunstwerk aus. Wir möchten diesen schönen Fluss des «Ki» in der Kalligraphie, der Tuschemalerei, der Musik und sogar in Sportarten wie Judô und Kendô erkennen. Wenn westliche Musik einen «rationalen» Charakter hat und eine «Musik der Ratio“ ist, kann man die asiatische Musik, die auch ich anstrebe, als eine «Musik des Ki, der Energie» bezeichnen. Ich höre in dieser Shakuhachi-Musik den Ausdruck eines kraftvollen und schönen «Ki» heraus.
Und unter dem Einfluss dieser Musik entstand mein «Atemlied», das ich 1997 für Bassflöte komponiert habe:
In der modernen Musik ist es üblich geworden, verschiedene Arten von Geräuschen einzubeziehen, die von westlichen Komponisten allerdings oft sehr politisch verstanden werden. Sie verwenden diese Geräusche nämlich zumeist, um die vorgegebenen musikalischen Konventionen, das Gewohnte zu durchbrechen. Dagegen sind Geräusche in meiner Musik als der Versuch zu verstehen, sich dem Klang der Natur anzunähern. In unserer japanischen traditionellen Musik sind die Grenzen zwischen Musik und Geräusch nicht klar gezogen. Das Geräusch wird vielmehr als ein Teil des Klangs der Natur verstanden.
In meinem Vortrag «Musik und Natur» von 1995 ging es hauptsächlich darum, durch Musik eine Harmonie mit der Natur zu suchen. Wenn ich sagte, dass ich in Hiroshima geboren bin, dann denken viele Europäer an die Stadt Hiroshima, die der Atombombe ausgesetzt war, und er werden sich wohl nur wenige Menschen vorstellen können, dass Hiroshima ein Ort ist, der mit einem wunderschönem Meer und malerischen Inseln gesegnet ist.

Horoshima © Hirotsugu Mori via Wiki Commons
Zwar erholte sich Hiroshima nach dem Krieg von den Schäden der Atombombe und wurde wieder aufgebaut. Dieser Prozess hatte aber die enttäuschende Kehrseite, dass die Menschen die Natur dabei mit ihren eigenen Händen zerstörten. Ich wurde 1955 geboren, 10 Jahre nach dem Bombenabwurf. Soweit ich mich erinnern kann, war Hiroshima in meiner Kindheit bereits weitgehend wieder aufgebaut, und Schäden waren kaum mehr sichtbar. Natürlich litten immer noch viele Menschen unter den Spätfolgen der Atombombe. Und meine Eltern wollten über die Tragödie dieser Zeit nicht allzu viel reden. Es müssen für sie sehr schreckliche Erfahrungen gewesen sein. Dann trat Japan in den 1960er Jahren in eine Phase hohen Wirtschaftswachstums ein. Und für dieses Wirtschaftswachstum wurde das Meer, das in meiner Kindheit mein Spielplatz gewesen war, allmählich verschmutzt und die Berge wurden abgeholzt, um neue Wohngebiete zu erschließen. Ab meinem 20. Lebensjahr habe ich 10 Jahre in Deutschland studiert. Als ich vom Studium im Ausland zurückkam, war der Strand, an dem ich als Kind gespielt hatte, mit Beton verbaut und zu einem großen Parkplatz geworden. Und auch der Bambushain auf dem Hügel hinter meinem Elternhaus, der mir in der Kindheit als ein Spielplatz voller Geheimnisse diente, war verschwunden. Er hatte einer neuen Wohnanlage Platz machen müssen. Es war ein großer Schock für mich, dass die Natur, die ich als Kind so sehr geliebt hatte, gewaltsam ausgebeutet wurde. Trotz der großartigen Erholung von den Atombombenschäden zerstören die Japaner nun selbst mit ihren eigenen Händen die Natur.
Ich bin – wie gesagt – in der Phase von Japans hohem Wirtschaftswachstum aufgewachsen und habe dadurch viele Vorteile gehabt. Auch dass ich so lange Zeit in Europa studieren konnte, habe ich sehr wahrscheinlich der damaligen wirtschaftlichen Prosperität Japans zu verdanken. Gleichzeitig haben wir Japaner jedoch die intime Beziehung zur Natur und die Ehrfurcht vor ihr verloren.
Wut der Natur?
1995 gab es dann ein weiteres einschneidendes Ereignis: Das große Erdbeben in Kobe. Und im selben Jahr ereignete sich zudem noch der rücksichtslose Terroranschlag auf die U-Bahn von Tokyo, ausgeführt von der «Aum Shinrikyô», einer neuen obskuren religiösen Sekte. Japans «Bubble economy» brach zusammen, und die japanische Gesellschaft erlebte seit den 1990er Jahren einen rapiden Niedergang. Das mit Abstand schlimmste Ereignis waren dann aber am 11. März 2011 das Erdbeben und der Tsunami in Ostjapan und der damit zusammen- hängende Atomunfall in Fukushima.
Man könnte geradezu meinen, dass dieser durch den Tsunami verursachte nukleare Unfall ein Ausdruck der großen Wut der Natur auf die Japaner der Nachkriegszeit war, die nur noch nach wirtschaftlicher Effizienz strebten und dabei die Natur so sträflich vernachlässigten.
Segnungen und Bedrohungen
Nun ist Japan allerdings von Anfang an ein Land mit vielen Naturkatastrophen gewesen – mit regelmäßigen Taifunen, starken Regenfälle, Erdbeben, Tsunamis. Wir lebten schon immer in einer Umgebung, in der wir mit diesen Bedrohungen der Natur auskommen mussten. Japan ist als Insel vom Meer umschlossen und die Veränderungen der vier Jahreszeiten sind subtil und von großer Schönheit. So eng verbunden die Menschen damit waren, so leicht waren sie auch der Gewalt der Natur ausgesetzt. Die Segnungen und auch Bedrohungen der Natur bestimmten die traditionelle Kultur, die sich die Japaner über viele Jahrhunderte erschaffen haben.
In diesem Zusammenhang ist vor allem der Begriff des «Mujô», des «Unbeständigen, Vergänglichen» von Bedeutung. Er ist eine der Grundkategorien japanischen Denkens und drückt die Erkenntnis aus, dass «es nichts gibt, was immer da ist». Und dieses deutliche Gefühl des Nicht-Dauerhaften hat sich bei den Japanern letztlich wohl aus den Erfahrungen des durch viele Naturkatastrophen bestimmten Lebensraums und der Flüchtigkeit des menschlichen Lebens ausgebildet. Hinzu kam die von den buddhistischen Lehren betonte Einsicht in die Vergänglichkeit allen Seins, die eine einzigartige Ästhetik entstehen ließ. Der wichtigste Begriff dieser Ästhetik lautet «Mono-no-aware», der im Deutschen mit «Ergriffenheit von den Dingen» übersetzt werden kann. «Mono-no-aware» meint die Sensibilität, «Trauer» oder «Melancholie» zu empfinden darüber, dass nichts ewig existiert, und zugleich die Fähigkeit, dies statt mit Verzweiflung vielmehr mit einer gewissen Gelassenheit als Tatsache hinzunehmen und Vergänglichkeit mit den «Augen des Mitgefühls» betrachten zu können. Hieraus ergibt sich eine einzigartige poetische Stimmung.

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Um ein Beispiel zu geben, möchte ich die besondere Liebe von uns Japanern zu den im Frühling aufblühenden Kirschblüten nennen. Das Leben der Kirschblüten ist sehr kurz; der Zeitraum der vollen Blüte beträgt weniger als eine Woche. Genau so schön wie die voll erblühten Kirschblüten erscheint es uns allerdings auch, wenn diese sich schließlich im Winde flatternd auflösen und zu Boden fallen. Und dieses Auflösen der Blüten empfinden wir dann als «Mono-no-aware». Es lässt uns daran denken, dass unser menschliches Leben nicht ewig währt, und angesichts dieser Vergänglichkeit Traurigkeit spüren. Aber zugleich bekommen wir auch das Gefühl, dass dieses Leben, eben weil es kurz ist, «ein kostbares Ding» und «ein schönes Ding» ist.
Auch der Ton ist etwas, das «geboren» wird und «vergeht». Die Musik von Bach und Bruckner scheint zu versuchen, dem Fluss der sich wandelnden Zeit zu widerstehen. Sie versucht in ihrer musikalischen Struktur das Ewige auszudrücken. Es entsteht eine wunderbare Klangwelt, die wie eine prächtige Kathedrale auf die Ewigkeit verweist. Und dort existiert möglicherweise der christliche Gott, der das ewige Leben in Aussicht stellt. Doch ohne diesen Widerstand gegen den Zeitfluss entstehen die Töne im Fluss der vorüberziehenden Zeit und vergehen mit diesem wieder. Es fragt sich, ob es nicht vielleicht auch eine Musik geben kann, bei der man die Trauer über die Vergänglichkeit des Moments und zugleich dessen Schönheit zu genießen vermag.
Leere und Stille
Aus einer solchen Einstellung ist unsere traditionelle japanische Musik entstanden, eine Musik, in der neben dem Ton das sogenannte «Ma», der Zwischenraum ohne Ton, die «Stille» eine besondere Bedeutung hat.
Ähnliches findet man auch in der visuellen Kunst Japans. So ist in der mit dem Pinsel ausgeführten Kalligraphie «Sho» der weiße, «leere» Bereich des Hintergrunds, der Leinwand oder des Papiers, auf dem die Linien des Pinsels entstehen, genauso wichtig wie die Linien selbst. Auch die Leerstellen in mit Tusche gezeichneten Landschaftsbildern sind ein wichtiges Element des Gemäldes als Ganzes. Und bei der Kalligraphie lässt sich wohl sagen, dass man sich hier an den Spuren des «Lebens» erfreut, wenn die auf dem weißen, leeren Hintergrund mit dem Pinsel entstehenden Linien sich wieder in dem weißen, leeren Raum auflösen.
Zu den japanischen Künsten zählt auch «Ikebana». Das ist die Kunst, auf dem Feld wachsende und blühende Blumen abzuschneiden und im Haus aufzustellen – nicht als üppigen Strauß zur bloßen Dekoration, sondern in einem wohlüberlegten Arrangement vor einem ausgewählten Hintergrund als Symbol des Lebens. Die Blumen sind bereits geschnitten, so dass sie sich nicht lange halten. Im Hintergrund lauert also schon ihr Tod. Wir Japaner empfinden das kurze Leben einer Blume, die in dieser Flüchtigkeit in Würde blüht, als «schön».

Ikebana © pixabay
Diese japanische Kultur nun, die eine enge Beziehung zur Natur pflegt und aus den Segnungen und Bedrohungen der Natur erwachsen ist, haben die Japaner in den letzten Jahren und Jahrzehnten eigenhändig zu zerstören begonnen. Um es noch einmal zu sagen: Ich denke, der Atomunfall in Fukushima war dafür geradezu ein Symbol. Und ich habe das Gefühl, dass in dem schrecklichen Tsunami, der dem vorausging, der Zorn der Natur auf die Menschen enthalten war, die jede Ehrfurcht vor ihr verloren haben.
2015 habe ich als Auftragswerk der Hamburger Staatsoper meine Oper «Stilles Meer» (jap. Titel «Umi, shizuka na umi») komponiert. Das Libretto für dieses Werk stammt von Oriza Hirata, einem hervorragenden japanischen Dramatiker und Regisseur der Gegenwart. Ich hatte einen Zeitungsartikel mit dem Foto einer Mutter gelesen, die in Fukushima ihren kleinen Sohn durch den Tsunami verloren hatte. Sie suchte unermüdlich nach dem Körper ihres Sohnes und lief auch ein Jahr nach dem Tsunami-Unfall noch immer am Strand von Fukushima entlang. Ihre Haltung machte einen so starken Eindruck auf mich, dass ich Oriza Hirata vorschlug, diesen Vorfall als Stoff für das Libretto der Oper mit zu berücksichtigen. Im japanischen Nô-Theater gibt es ein bekanntes Stück mit dem Titel «Sumidagawa» (Am Sumida-Fluss), in dem dargestellt wird, wie eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, zu einer «Kyôjo», einer «verrückten Frau» oder, modern gesprochen, zu einer Wahnsinnigen wird, die aus Gram und Verzweiflung ihre psychische Balance verloren hat. Auf der Grundlage dieses Nô-Stücks schuf Oriza Hirata ein Libretto, in dem angenommen wird, dass sich die Tragödie an einem Ort namens Fukushima abgespielt hat. (…)
Ich habe diese Oper als ein Requiem für die Menschen komponiert, die im Tsunami starben. Nach dem Unfall in Fukushima habe ich die Beziehung zwischen «Musik und Natur» noch einmal genauer überdacht. Dabei wurde mir klar, dass es nicht mehr nur um die glückliche Harmonie zwischen Musik und Natur gehen kann, und ich fragte mich, wie ich der Bedrohung der Natur als Musiker begegnen kann.
Welche Bedeutung hat Musik?
Ich kam zu der Überlegung, dass Musik in folgender Weise Bedeutung hat.
- Musik dient der Rettung der menschlichen Seelen. Ein «Requiem» (jap. «Chinkonka», wörtlich: «Gesänge zur Befriedung der vom Körper getrennten Seelen») existiert, um die Seelen der Verstorbenen zu reinigen und gleichzeitig den Geist der trauernden Angehörigen zu trösten.
- Musik entstand aus schamanischen Ritualen. Der Schamane verbindet die diesseitige Welt mit der jenseitigen Welt. Für mich ist der Darsteller auf der Bühne ein Schamane, der durch Musik und Gesang Diesseits und Jenseits, Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod, Verstand und Wahnsinn miteinander verbindet.
- Beim Singen über die «Trauer» findet eine Reinigung (des Geistes) statt. Indem man der «Trauer» in Musik Gestalt gibt, kann man sie mit anderen teilen.
Soweit in Stichworten meine Gedanken zur Bedeutung von Musik.
Nach meiner Oper «Stilles Meer» beauftragte mich die Staatsoper Stuttgart mit der Komposition eines weiteren Bühnenwerks, der Oper «Erdbeben. Träume». Ihr liegt ein Libretto des zeitgenössischen deutschen Schriftstellers Marcel Beyer zugrunde, das seinerseits auf der Novelle «Das Erdbeben in Chili» von Heinrich von Kleist basiert. Es ist ein Werk entstanden, das eine Tragödie beschreibt, bei der nach der Naturkatastrophe eines Erdbebens eine Masse von Menschen in Wahnsinn und Hysterie verfällt, wobei auch politische Inhalte mit einbezogen werden.
Bei meinem Monodrama «The Raven» (Der Rabe) habe ich das berühmte Gedicht gleichen Titels von Edgar Allan Poe vertont. Bei der Erzählung eines Mannes, der von seiner verstorbenen Geliebten und einem unheimlichen Raben besessen wird, habe ich die männliche Hauptrolle in eine Frau verwandelt und mit einer Sängerin (Mezzosopran) besetzt, die sich als Schamanin zwischen dem Diesseits und dem Jenseits frei hin und her bewegt und mit Totenseelen und Geistern von Tieren kommuniziert. Für diese Idee habe ich mich vom japanischen Nô-Drama inspirieren lassen.
Vorgelesen am Freitag 4.9.2020 im Rahmen des „Musikfestival Bern 2020 – Tektonik“. Übersetzung aus dem Japanischen: Heinz-Dieter Reese. Die nächste Ausgabe des Musikfestival Bern findet vom 1. – 5. September statt.