Die Psychologin und Psychotherapeutin Dinka Migić-Vlatković steht in diesem Sommer erstmals dem European Union Youth Orchestra (EUYO) während der Sommerresidenz in Grafenegg als Mentaltrainerin zur Seite. Im Interview erzählt sie von der Arbeit mit den jungen Musikerinnen und Musikern und betont die Bedeutung mentaler Stärke in der Musikbranche.
Grafenegg: Frau Migić-Vlatković, als Mental Coach mit Fokus auf Musikerinnen und Musiker haben Sie alle Hände voll zu tun. Womit genau?
Dinka Migić-Vlatković: Professionelle Musikerinnen und Musiker haben mit einer ganzen Reihe an mentalen Herausforderungen zu tun. Viele sind sehr sensibel und denken zu viel nach, fast alle stehen in ihrer Arbeit unter großem Leistungsdruck. Hinzukommen oft erhebliche Selbstzweifel und Unsicherheiten. Ich selbst bin Psychologin und Psychotherapeutin, habe aber u.a. durch meinen Mann, der ein professioneller Musiker ist, einen starken Bezug zu dieser Branche und den Menschen darin. Da habe ich eben recht früh erkannt: Es gibt hier sehr viel zu tun, aber wenig bis keine Angebote zur mentalen Unterstützung. Ganz im Unterschied zum Sport etwa, wo es längst Normalität ist, dass Profis auch Mental Coaches an deren Seite haben. Und die positiven Resultate sind deutlich sichtbar.
Woran liegt es, dass mentale Unterstützung im musikalischen Berufsfeld noch nicht so etabliert ist wie im Profi-Sport?
Im Sport gibt es mehr Geld, um neben dem eigentlichen Training auch Mentaltraining anzubieten – aber auch, um die Forschung in diesem Feld voranzutreiben. Als ich mich in diesem Bereich weiterbilden wollte, gab es kein Studium mit Schwerpunkt Musikpsychologie. Also wählte ich Sportpsychologie als Postdiplomstudium und erkannte: In vielerlei Hinsicht ist der Profi-Sport sehr ähnlich zur professionellen Musik. Viele Arten des Mentaltrainings, der Stärkung von Resilienz, kann man bei Musikerinnen und Musikern ebenso gut anwenden wie im Sport. Auch beispielsweise Nervosität oder Lampenfieber ist in beiden Bereichen ein Thema.

Mentaltrainerin Dinka Migić-Vlatković bei einem Workshop mit Mitgliedern des EUYO © Michael Giefing
Nach Ihrem Studium haben Sie begonnen, selbst Vorlesungen zu geben, etwa zum Thema Lampenfieber. Wie haben Musikerinnen und Musiker selbst denn reagiert?
Einige der älteren, etablierten Profis reagierten eher mit Ablehnung – für viele von ihnen war psychische Gesundheit wohl grundsätzlich ein Tabuthema. «Lampenfieber? Kenne ich nicht. Das haben nur die anderen, weil sie nicht genug üben», wurde mir gesagt. Heute, ein paar Jahre später, hat sich da aber schon etwas entwickelt. Die Musikerinnen und Musiker, vor allem der jungen Generation, stehen dem Thema offener gegenüber und sind auch sehr interessiert. Das macht mich froh, denn ich sehe, wie sehr mentales Coaching helfen kann. Mittlerweile arbeite ich mit vielen Profis aus der Musikbranche zusammen, auch mit Orchestern, aber wenn ich sehe, wie mein Training andere dabei unterstützt, das Selbstvertrauen wieder aufzubauen, bin ich immer wieder sehr begeistert.
Diesen Sommer arbeiten Sie erstmals mit dem EUYO zusammen und nehmen als Mentaltrainerin an der Residenz in Grafenegg teil. Wie profitieren die Teilnehmenden davon?
Ich halte Vorlesungen, mache Workshops und erkläre, was wir tun können, um mentale Stärke und Resilienz zu fördern. Ich stehe auch die ganze Zeit über für alle Orchestermitglieder zur Beratung, zum Coaching bereit – und sei es nur, um Trost zu spenden. Mein erster Eindruck ist ein guter, denn sehr viele nutzen das Angebot und kommen zu mir. Darüber hinaus widmen wir jeweils die zehn Minuten vor den Proben einer gemeinsamen Übung zur Stärkung der mentalen Gesundheit. Das kann zum Beispiel ein Achtsamkeitstraining sein oder eine Konzentrations- oder Atemübung. Ich mache mit ihnen auch viele körperliche Übungen, was die jungen Menschen oft sehr überrascht. Bei mentaler Gesundheit denken ja viele nicht in erster Linie an eine Verbindung mit körperlicher Betätigung. Die gibt es aber und die ist auch sehr wichtig. Körper und Geist sind stark miteinander verbunden.

Mentaltraining sollte fixer Bestandteil der täglichen Übunsgzeit sein, ist Dinka Migić-Vlatković überzeugt. © Michael Giefing
Wie erklären Sie den jungen Orchestermitgliedern die Verbindung zwischen physischer und psychischer Gesundheit?
Ich stelle eine Frage, und zwar: «Was ist dein Instrument?». Die Antworten lauten dann zum Beispiel «Geige», «Cello» oder «Tuba». «Falsch!», sage ich dann. Denn unser eigentliches Instrument ist der Körper. Ein Musikinstrument ist bloß ein Lautsprecher. Und wenn im Körper etwas wehtut oder es irgendwo Verspannungen gibt, dann hört man das und dann ist auch die Psyche angeschlagen. Dementsprechend helfen auch körperliche Entspannungsübungen dabei, psychisch zu entspannen oder fokussierter zu sein. Aber natürlich nutzt es nichts, bloß zu sagen: Renn ein bisschen auf der Stelle, wenn du nervös bist. Da nimmt mich niemand ernst. Also erkläre ich den Orchestermitgliedern auch, worin ganz konkrete Zusammenhänge bestehen. Lampenfieber ist zum Beispiel eine Ur-Reaktion unseres Körpers, der auf das Überleben trainiert ist – fight, flight, freeze. In stressigen Situationen spielen Adrenalin und Kortisol eine Rolle und dagegen gibt es keine Pille. Da hilft nur Bewegung.
Und können das alle – sich einfach so auf Knopfdruck locker machen?
Das muss man üben, am besten tagtäglich. Musikerinnen und Musiker müssen verstehen, dass das einfach zu ihrer täglichen Übungszeit gehört. Wie die Tonleiter ist auch Mentaltraining Teil der Übung. Erst vor dem Konzert, wenn die Nervosität dann einsetzt, auf eine Übung zurückgreifen – das funktioniert so nicht. Daher appelliere ich auch an die Orchestermitglieder des EUYO, sich die eine oder andere Übung aus unseren Workshops – bei der sie merken, dass sie ihnen guttut – mitzunehmen und diese jeden Tag in die reguläre Übung zu integrieren.
Das EUYO in Grafenegg:
DAS EUROPEAN UNION YOUTH ORCHESTRA UND VASILY PETRENKO UND JESS GILLAM ALS SOLISTIN
Programm & Karten unter grafenegg.com
Das Interview führte Miriam Steiner