Ob Paukenschlag oder sanftes Hinübergleiten – der Jahreswechsel verliert nie an Zauber und Hoffnung. Die Autorin, Sozialarbeiterin und Bloggerin Jaqueline Scheiber, auch bekannt als «Minusgold», erzählt von der Melodie, die jedem Jahresende, vor allem aber Jahresbeginn, innewohnt.
Von Jaqueline Scheiber, «Minusgold»
Eine müde Melodie legt sich über die klaren Wintersonnenstrahlen, es sind die Tage zwischen den Jahren, wo manchmal Vieles so klar und unaufdringlich in den Stunden hängen bleibt und sich ausbreitet. Aufbruchsstimmung wächst in der Körpermitte und bäumt sich bis zum letzten Morgen des Jahres zu einem Bedürfnis auf. Ob Paukenschlag oder sanftes Hinübergleiten – der Weg vom 31. Dezember zum 1. Jänner ist einer in Begleitung einer besonderen Stimmung.
Und das, obwohl in vielerlei Hinsicht die Wiederholung dessen abgedroschen, künstlich oder trivial scheinen mag. Dennoch, oder gerade deshalb ist es gleichermaßen erstaunlich, wie beruhigend, dass sich das geballte Volumen eines Jahres trifft und zerfließt.
Schnellen Schrittes, in gleichmäßigem Tempo, führt der Takt heran an das Finale einer Erzählung, die wie alle guten Geschichten von jemandem konstruiert und weitergegeben wurde. Im Heranwachsen verlieren wir beinahe alle unsere Anknüpfungspunkte an eine Magie, die von dem Unwissen lebt. Erwachsenen bleiben nur wenig Räume, an denen der Zauber ohne Rechtfertigung existieren darf. Trotz einer breiten Vielfalt an Glauben und Glaubenssätzen, eint sich die Menschheit in einer kollektiven Sentimentalität auf den Abschied aus einem Jahr, auf den Ausblick einer neuen Periode und das Sortieren der angefallenen Zwischentöne. Manche*r mag das kitschig, überholt oder verquer finden, doch selbst der Widerstand oder die Aversion zu großen Gesten am Jahresabschluss ist schließlich nur ein Kontrast zum allgegenwärtigen Verständnis über einen Abschied, den wir Zeit unseres Lebens in unterschiedlichen Abstufungen wiederholen.
Alle kommen wir irgendwo her
Aus einer Abfolge an Erlebnissen, Hürden, aus einer komplexen Komposition an Alltagsgeschehen und herausblitzenden Lichtpunkten. Wir kommen aus den dumpfen Klängen, die bloß in ihrer letzten Vibration an unserer Haut abprallen, wir kommen aus den schrillen Momenten, an denen wir die Möglichkeit hatten, unsere volle Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten. Das sind die seltenen Ereignisse, an denen die Zeit stehen zu bleiben scheint. Ganz unbewusst oder mit Anlauf und Nachdruck versehen, wird einmal abgerechnet; die Summe der zwölf Monate und jeder Begegnung, jeder Tal- und Bergfahrt, durch die wir geführt wurden.
Die Überlegungen zu Zeit und ihrer Bedeutung ist so alt, wie die Zeit selbst. In der heutigen Post Moderne ist sie vor allem definiert durch ihren Mangel. Zeit ist ein rares Gut. Zeit ist ein Konstrukt. Zeit ist eine Entscheidung. Zeit ist aber auch eine Konstante, von der wir uns nicht lösen können und ihre Bezeichnung – in Monaten und Jahren – dient nicht nur dem pragmatischen Grund Orientierung zu schaffen, sondern knüpft unwillkürlich eine innige Verbindung zwischen Zahlen und Emotionen. Alles, was zwischen Jänner und Dezember Bedeutung trägt, hat eine persönliche Note. Ob es Geburtstage, Jahrestage oder die Markierung wichtiger, oder schmerzhafter Ereignisse sind, sie sind höchst persönlich. Wir allein gestalten ihren Stellenwert. Sie sind, wenn man so will, eine Auswahl an Klängen, denen wir Raum zugestehen, die wir in uns hallen und ankommen lassen. Sie sind die Augenblicke, an denen wir die Lautstärke höher drehen, um uns ihrem vollen Volumen hinzugeben. Sie sind Entscheidungen.
Was keine Entscheidung ist, weil es schon immer über den Dingen stand, ist die Schnittmenge, auf die sich die gesamte Welt einigt: die Gestaltung der Jahreswechsel. Silvester ist das Weihnachten der Freunde, sagte kürzlich jemand zu mir und bis zu einem gewissen Grad stimme ich zu. Silvester ist das Fest, das unabhängig jeglicher religiösen Anschauungen nach einem Rahmen verlangt, der frei wählbar ist. In unseren Breitengraden drängt sich vor allem Licht, Krach und eine jahrhundertalte Kunst auf, die die Atmosphäre unterlegt, in der wir einen angemessenen Rahmen für den Abschluss verorten. Es ist die Musik, spezieller noch, ein Walzer, ein simples Stück, das jeden Muskel an das emotionale Gedächtnis anschließt und Bedeutung trägt. Mit dem Tanz und den Reflektionen am Nachthimmel entfaltet sich diese spezielle Stimmung, die aus der Müdigkeit in den Anlauf übergeht.
Am Silvesterabend scheint die Hoffnung aufzukeimen
Ihr wird eine Sichtbarkeit zugestanden, die zwar mit einem Augenzwinkern versehen, dennoch dazu verleitet, uns ihr hinzugeben. Die Hoffnung darauf, dass sich die Dinge, die wir in unserem Resümee rot markierten, ändern werden oder können, dass wir die Lücken damit füllen, was wir als dafür vorgesehen erachten, dass wir endlich diese Entscheidungen treffen und häufiger den Moment hereinbitten, anstatt ihn an uns vorbeiziehen zu lassen.

Autorin, Sozialarbeiterin und Bloggerin Jaqueline Scheiber © Theresa Wey
So nehmen wir Platz, in den prunkvollen Räumen einer Musikstätte, am Esstisch oder einem anderen von uns als angemessenen erachteten Ambiente, wir nehmen Platz in Gesellschaft oder allein, um uns genau in diesem Moment zu erheben und den Schauer eines Zaubers, der im Grunde bloß eine Erzählung, doch eigentlich eine Tradition ist, über eine Schwelle zu gehen. Eine Wiederholung, die bei aller Belustigung und Ironie ihre Daseinsberechtigung nicht verliert, weil sie den Bogen schließt und eine seltene Sicherheit in all der Unvorhersehbarkeit birgt.
Jeden Neujahresmorgen, an dem ich aufwache und das Licht sich durch die Scheiben zaghaft auf meine Deckenlandschaft erstreckt, bin ich dieselbe, die ich auch am Abend zuvor in geschwollener oder zurückhaltender Manier Wünsche in die Nacht stieß, mit einem zarten Unterschied:
Es war wieder ein Jahr. Und darauf folgt ein Neues
Und wenn wir uns auf eine Sache einigen können, dann ist es die Tatsache, dass die Erkenntnis über das voranschreitende Leben manchmal schmerzlich, beängstigend oder zögernd sein kann, doch vor allem ist es ein Geschenk und eine warme Tradition, die uns daran erinnert, im Hier und Jetzt froh um unser Dasein und unser Erleben zu sein.
So rückt die Melodie der vorangegangenen Nacht in merkliche Distanz und der Brustkorb und die Bedeutung dürfen sich wieder legen. Was bleibt, sind die Geschichten, die wir uns erzählen und die in Summe eine wunderschöne Komposition eines Lebens ergeben.
Was bleibt, sind die ersten Male, die auf neuem Blatt und aus klarem Kopf wachsen. Wenn wir den Stift wieder ansetzen und darunter nicht ein Stapel, sondern nur der Einband liegt. Der Anlauf, der nun in eine Bewegung mündet und sich wieder dem Alltag hingibt, der Witterung aussetzt. Aus dem Punkt, an dem das gesamte Vorjahr kumulierte, zerfließt in den ersten Tagen des Jänners eine sanfte Ruhe über die meist eisige Landschaft. In einer Übung setzen wir da an, wo wir zuletzt aufgehört haben und wenn es uns gelingt, das Licht und die Melodie der vorangegangenen Tage noch über ein paar weitere Strecken und Wege in der Handfläche und unter den Lidern zu tragen – gelingt es uns auch friedvoll und zuversichtlich auf das zu blicken, was kommt und uns in den kommenden Monaten erwarten darf.
Zur Autorin: Jaqueline Scheiber, «Minusgold», seit 2012 Wahlwienerin, ist Sozialarbeiterin, Kolumnistin, Autorin und eigens ernannte Selbstdarstellerin. Auf ihrem Blog veröffentlichte sie unter dem Pseudonym «Minusgold» Lyrik und Prosa. Auf dem gleichnamigen Instagram Account bespricht sie gesellschaftskritische Themen, teilt Teilrealitäten ihres Alltags und verarbeitet Eindrücke in kurzen literarischen Erzählungen.