Die Coronakrise zerrt an den Nerven. Was kann man dagegen tun? Als Österreicherin und Österreicher weiß man es: Bewältigen wir halt die Sache!
Von Edwin Baumgartner
1.
Corona nervt.
So ungeheuer nervt Corona, dass man am liebsten… – ja, was jetzt? Aus der Haut fahren würde? Bringt nichts.
Dann schon lieber durchstehen. Ach was, «durchstehen»: «Überwinden» ist die Devise. Denn es kommt eine Zeit nach Corona, und die soll richtig schön werden.
2.
Aber im Moment nervt Corona. «Pandemiemüde» ist das Wort dazu, das man in den Zeitungen liest und in den Kommentaren zur Krise unentwegt hört. Wie sich die Pandemiemüdigkeit äußert. Was man gegen die Pandemiemüdigkeit tun kann.
Kann man überhaupt?
Das diskutieren wir in der nächsten Sendung.
Manchmal nerven die Kommentare, Berichte und Diskussionen über Corona noch mehr als Corona selbst.
Geht das nur mir so – oder habe ich in Ihnen Verbündete?
«Wir raunzen auf hohem Niveau», hat eine Freundin unlängst konstatiert. Auf sie trifft das zu, auf mich auch.
Dennoch: Es nervt.
Darf ich Ihnen erzählen, was mich daran so unglaublich nervt? Aber lachen Sie nicht! Ins Konzert gehen oder ins Theater.

Freuen wir uns auf uneingeschränkte Konzertbesuche mit all ihren Facetten. © Alexander Koller
Wir gehen trotzdem. Brav geimpft, sie dreimal, ich zweimal, weil ich beim ersten Mal solch ein Einmal-Spritzerl bekommen und mich den Tag darauf gefühlt habe, als wären mir nicht ein paar Milliliter Johnson injiziert worden, sondern ein halber Liter Johnny, Walker nämlich. Jedenfalls sind die Impfungen am frischesten Stand.
Und was nützt’s?
Ja, wenigstens ins Konzert und ins Theater darf man derzeit. Wenn man getestet ist. Und eine FFP2-Maske trägt.
Nichts dagegen einzuwenden. Ich wäre ja auch dafür, dass jeder Dampfer pro Person ein Rettungsboot mitführt (ich übertreibe, pro zehn Personen ein Rettungsboot halte ich für ausreichend).
Aber – wie soll ich es sagen, ja, so eben: Es nervt.
3.
Dabei könnte man es sich doch so bequem und so einfach machen. Gut, Theater ist was Anderes. Da gibt es die Streaming- und Bildträger-Angebote nicht im selben Umfang wie bei Oper und Konzert. Aber in Sachen Musik? – CD-Player auf, CD eingelegt, geht schon. Und wo hört man heute schon eine Sechste Mahler unter Leonard Bernstein oder eine Siebente Bruckner unter Herbert von Karajan?
Dennoch…
Dennoch ist es nicht dasselbe. Und zwar nicht, weil – ja, wie soll ich das erklären?
So vielleicht, aber ich kann da nur von mir sprechen: Diese Coronakrise mit ihren Lockdowns hat mir eines klargemacht, nämlich, dass der Mensch nicht nur ein Gemeinschaftswesen ist, sondern auch ein Wahlwesen.
Genau: Der Mensch will wählen können. Es ist ein Unterschied, ob ich die Wahl habe, mir zum Beispiel in Grafenegg ein Programm mit Werken von Anna Thorvaldsdóttir, Peter Iljitsch Tschaikowski und Jean Sibelius anzuhören, oder dieselben Werke, vielleicht sogar mit denselben Interpretinnen und Interpreten zu Hause in den CD-Player einzulegen.
Weil ein Konzert etwas Anderes ist. Es ist nicht beliebig verfügbar. Man muss hingehen. Das Konzert umfasst das Anziehen des Sakkos, das Binden der Krawatte, die Überlegung, welches Jäckchen zum Kleid passt, welche Schuhe? Das alles ist Konzert.
Und Konzert ist auch Zeit, eine klingende Zeitbeschreibung.
Der Akkord, der gerade in der Luft schwingt, wird nie wieder so erklingen, denn wenn er wieder erklingt, ist er doch ein anderer Akkord. Er mag der gleiche sein – derselbe kann er nicht sein. Das macht ihn so einmalig, und alles Einmalige ist kostbar.
Auf der CD ist das anders – da ist er jedes Mal derselbe Akkord. Auch schön. Auch beglückend. Aber – ja, eben etwas Anderes als im Konzert.
Und der Mensch will wählen können, was ihm gerade lieber ist.
4.
Was zumindest mich dermaßen nervt bei Abendveranstaltungen, wie sie jetzt stattfinden, sind aber nicht Impfungen, Tests, Masken, Personalisierungen der Karten und die Eintrittskontrollen. Was mich nervt, ist die Unsicherheit: Wird es klappen? Oder wird abgesagt? Umbesetzt? Programm geändert?
In unserem Fall war es das «Automatenbuffett» mit der großartigen Maria Happel im Akademietheater: Karten gekauft, Lockdown – zweiter Anlauf, Lockdown – dritter Anlauf, Lockdown. Bitte das nicht eins-zu-eins für bare Münze nehmen, einmal war es kein Lockdown, sondern eine Programmänderung. Oder doch ein Lockdown? Ich bringe das schon durcheinander.
«Du raunzt auf hohem Niveau», hat die Freundin gesagt – wie sie es in solchen Fällen immer sagt. Ja, eh… (Wie ich es in solchen Fällen immer sage.) «Nimm es als kleinen Spannungseffekt», hat sie gesagt.
Mittlerweile haben wir «Automatenbuffett» gesehen. Es war ein Triumph – die Aufführung sowieso, aber auch, dass es endlich geklappt hat.
Einfach umdenken – die alte Sache: Wenn Dir das Leben Zitronen gibt, mach‘ Limonade daraus.
5.
Zumal da ja noch die Sache mit dem Sinn ist.
Der Sinn ist eine feine Sache. Der Sinn nämlich verleiht die Kraft, an die eigenen Grenzen zu gehen, mehr auszuhalten, als man sich zugetraut hätte; auch, eigene Positionen immer wieder zu überdenken: Hat es einen Sinn, was ich mache, oder mache ich es nur, weil ich einem unüberlegten Gefühl folge?
Zum Beispiel gerade jetzt: Das wichtigste Gut des Lebens ist das Leben selbst. Wenn das wichtigste Gut des Lebens das Leben selbst ist, dann ist der Schutz des Lebens, und zwar der des eigenen wie der des Mitmenschen, die wichtigste Aufgabe. Dann schrumpfen die vermeintlich sinnlosen Zumutungen der Corona-Krise vielleicht auf tatsächlich sinnvolle Unbequemlichkeiten.
Da fällt mir gerade ein – ich habe eine Bitte an Sie:
Schreiben Sie Ihre Erlebnisse, Ihre Befindlichkeiten, Ihre Beobachtungen während der Coronakrise auf.
Nicht, um ein Buch daraus zu machen (oder doch – wer weiß?), sondern weil Sie, ebenso wie ich, weil wir alle gerade Geschichte erleben. Geschichte aber wird nachvollziehbar durch Geschichten. Es ist nicht wichtig, ob Ihre Aufzeichnungen jetzt oder in ein paar Jahren gelesen werden. Es ist wichtig, dass sie geschrieben werden. Denn nur Geschriebenes wird zuverlässig überliefert. «Exegi monumentum aere perennius» dichtete Horaz: «Ich habe ein Monument errichtet, das dauerhafter ist als Erz.» Damit meinte er, was er geschrieben hat.
Jeder von uns hat es in der Hand, selbst solche Monumente zu errichten.
Und gerade diese Zeit jetzt wird in die Geschichte eingehen, und das bedarf Ihrer, meiner, unser aller Geschichten. Wir sind Zeugen dieser Zeit. Diese Zeit bedarf unserer Zeugenberichte.

Empfindungen und Erlebtes in Worten oder Noten festhalten, um Geschichte greifbar zu machen.
6.
Und es nervt dennoch! – Ja, sicher. Ich glaube niemandem, der das nicht zugibt. Wann muss ich testen, damit das Ergebnis sicher rechtzeitig kommt, aber auch aktuell genug ist? Vier Stunden Burgtheater mit Maske? Gesichtsmuskelverspannung nach dem Konzert?
Und ob das nervt!
Die Künstlerinnen und Künstler trifft das naturgemäß noch härter: Ja, auftreten können sie wieder. Aber reden Sie einmal mit Musikerinnen und Musikern, mit Schauspielerinnen und Schauspielern, wie sie es finden, vor halb leeren Sälen aufzutreten. Es hat sich in einigen Theatern eingebürgert, dass am Ende der Vorstellung auch die Schauspielerinnen und Schauspieler dem Publikum applaudieren. Das ist keine leere Geste.
Es ist ein Zeichen des Dankes: «Wir freuen uns, dass Sie da waren.»
Die Freude ist ganz beiderseitig. Waren in letzter Zeit jemals Künstlerinnen, Künstler und Publikum so eng miteinander verbunden wie durch die Coronakrise?
Ich will da jetzt nicht krampfhaft etwas Positives herbeifantasieren. Ein bisserl jedoch ist was dran. Ist ja immer so: Wenn man etwas, das man immer gehabt hat, zumindest eine Zeit lang entbehren musste, lernt man es neu zu schätzen. Geht es Ihnen vielleicht wie mir, und Sie genießen Konzerte und Theater so intensiv wie nie zuvor?
Wobei es, Hand aufs Herz, keineswegs sicher ist, dass man, ich trau‘ es mich ohnedies fast nicht zu sagen, nicht doch noch einmal in einen Lockdown muss. Aber das wissen wir sowieso alle, dass dieses Damoklesschwert über uns hängt, solange es kein apothekentaugliches Medikament gegen Covid-19 gibt oder das Virus uns den Gefallen getan hat, zu einer harmlosen Schnupfenvariante zu mutieren.
7.
Jetzt aber einmal ganz im Ernst: Schönreden ist nicht meine Sache. Dazu hat die Pandemie zu viel Leid verursacht. Das darf man nicht ausblenden.
Trotz dieses Leids aber, trotz der vielen schweren Erkrankungen und der vielen Todesfälle, die wir alle beklagen, und die ein erinnertes Mahnmal an diese schwere Zeit bleiben werden, kann Österreich in der Krise erhobenen Hauptes dastehen. Das liegt an Ihnen, an Ihren Verwandten, an Ihren Freundinnen und Freunden, und es liegt an Tausenden und Abertausenden Menschen, die Sie nicht einmal dem Namen nach kennen.
Die mangelnde Solidarität wird oft beklagt. Ja, gibt es. Aber das sind doch wirklich Einzelfälle.
Der Satz «Wir schaffen das», von der deutschen Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel in anderem Zusammenhang geprägt, mag abgegriffen sein. In der derzeitigen Pandemie trifft er zu – nur, dass Österreich dranhängt: «Ja, eh…» Weil man gar niemals den Gedanken gehabt hat, die Krise eventuell nicht bewältigen zu können.
Und wenn die vorbei ist, die Krise, und sie wird vorbei sein – na, das wird eine Freude und ein Fest werden!
8.
Vorfreude ist die schönste aller Freuden, heißt es. Ich glaube, es stimmt. Deshalb verrate ich Ihnen jetzt noch schnell, worauf ich mich schon jetzt freue.
Ich freue mich darauf, dass die Coronapandemie einmal vorbei sein wird.
Ich freue mich darauf, dass ich ins Konzert und ins Theater gehen werde ohne Maske und ohne Eingangskontrolle, und dass ich das ganz spontan entscheiden werden kann, weil ich keinen Test brauchen werde.
Ich freue mich darauf, dass ich meinen Freunden und Bekannten wieder die Hand geben werde, statt Faust gegen Faust zu führen.
Ich freue mich darauf, in die Straßenbahn einzusteigen, ohne zuvor überlegt haben zu müssen, in welche Tasche ich die Maske gesteckt habe.
Ich freue mich darauf, mit meiner Freundin ein Schnitzel essen zu gehen, ohne im hintersten Winkel des Hirns zu überlegen, ob der Kellner die Maske korrekt trägt, oder doch eine Biowaffe ist, die mich, im Grunde ungewollt, nur unbedacht, ins Spital bringen könnte – und Schlimmeres.
Ich freue mich, dass ich dann zurückdenken werde und sagen werde: Waren das Zeiten.
Und wenn Sie alles aufgeschrieben haben, kann man nachlesen, welche Zeiten das waren.
Jetzt aber freuen wir uns darauf, dass sie der Vergangenheit angehören werden.
Freuen Sie sich mit mir darauf!