Mehr als Klang und Kulisse. Die Schlossgeschichten sind eine literarische Ergänzung am Grafenegg Blog. Unterschiedliche Autorinnen und Autoren verzaubern mit fiktiven Kurzgeschichten, die das Schloss sowie sein gesamtes Areal zum Schauplatz haben. Die junge Autorin und freie Journalistin Eva Reisinger startet mit ihrer Geschichte zum zährenden Winter und den Freuden auf das Frühlingserwachen.
Von Eva Reisinger
Es ist einer dieser späten Tage im Winter. Obwohl es immer heller wird, bleibt es an diesen Tagen dunkel. Der Winter hält die Tage fest im Griff. Wie eine Mutter ihr Kind am Rucksack neben der befahrenen Straße. Der Himmel ist verschwunden, hat sich nicht einmal verabschiedet. Kein Schnee, dafür Regen. Viel Regen. Kein motivierter oder aufregender oder gar romantischer Regen. Nein, selbst der Regen reiht sich in die Tristesse der Jahreszeit ein. Ja, der Winter dauert jedes Jahr zu lange. Doch dieser Winter ist besonders schlimm.
Im Jänner dachte Anna Maria, das Leben habe keinen Sinn mehr. Im Februar erfreute sie sich ein paar Tage daran, dass der Jänner vorüber war, um kurz darauf zu bemerken, dass immer noch alles genauso schrecklich war, wie im Monat zuvor. Der März dauerte so lange wie Jänner und Februar zusammen und änderte trotzdem nichts. Nun ist endlich April und immer noch Winter. Diese Erkenntnis kriecht in sie, so nass und feucht wie ihre Socken es sind. Anna Maria lehnt mit dem Rücken an der Wand, als sie fest an ihrer Zigarette zieht. Ein Glühen, der Lichtblick ihres Lebens, denkt sie. Leiwand, jetzt wurde sie auch noch verbittert. Wenn sie nicht besser auf sich aufpasst, hat die Depression sie aufgefressen, bevor der Frühling sich durchkämpfen kann. Vor wenigen Wochen stand der Frühlingsbeginn fett in ihrem Kalender eingetragen. Sie hatte ein Rufzeichen dazu gezeichnet. Sie war naiv gewesen, sie hatte sich hoffen getraut. An diesem Tag fiel Graupel vom Himmel. Sie erinnert sich, wie fest die Körner im Garten sich in ihrer Hand anfühlten.

Anna Maria tänzelt von einem Bein auf das andere und versucht ihre Zehen aufzuwärmen. Die Kälte hat sich längst durch die weißen Sneaker gefressen. «Schatz, du verkühlst dich!», hörte sie eine Stimme hinter sich. Ein grauer, weicher Schal umarmt sie. Obwohl Schal eine Untertreibung darstellt, nein, das ist kein Schal, das ist ein Teppich. Nicht kratzig, sondern ganz weich. Sicher Kaschmir. Nur nicht darauf äschern, denkt Anna Maria, als sie sich aus der Umarmung dreht und Bahar ansieht. Sie streicht sich gerade das pechschwarze Haar hinter die Ohren, verbleibt mit ihren warmen Händen kurz auf den Ohren und umschließt Anna Maria wieder mit ihren Armen. «Warum rauchst du nicht in der Garage?», will ihre Freundin wissen.
Rund um sie ist es stockdunkel. Obwohl es gerade einmal acht Uhr abends ist. Im Schloss ist es meist kälter als draußen. Die massiven Steinwände halten Kälte und Wärme draußen. Zumindest glaubt Anna Maria das. Wenn sie nach der Dusche mit nackten Füßen, über den Steinboden flitzt, spürt sie die Kälte. Im Sommer fühlt sich das schön an, im Winter ist es eine einzige Erinnerung daran, wie schrecklich diese Jahreszeit ist. An den Wänden ringen Geweihe miteinander, die sich nachts bewegen. In ihrem Zimmer soll einmal Marie Antoinette übernachtet haben. Ein Ölgemälde an der Wand erinnert an sie. Anna Maria braucht nicht auf die nach oben gedrückten Brüste und ihren verklärten Blick unter dem riesigen Hut schauen, sie spürt ihre Anwesenheit auch so.

«Ich hab’ Suppe gekocht», reißt Bahar sie aus den Gedanken. Anna Maria nickt, während sie denkt, dass sie Suppe hasst. Nicht weil sie nicht schmecken würde, nein, Bahar kocht fantastisch und deutlich besser als sie selbst. Aber sie kann kein heißes Essen mehr sehen. Nicht einmal der Gedanke an Frittaten löst etwas bei ihr aus. Anna Maria sehnt sich nach Gelato und Gspritzten. Nicht nach Eingekochtem und Tee. Ihre Mutter antwortete früher auf die Frage, ob sie ein Eis haben dürfte, immer mit der Gegenfrage: «Welchen Monat haben wir?» Wenn sich darin ein «R» befand, wusste Anna Maria, war Eis strengstens verboten. Und von diesen Monaten gab es schließlich viele: September, Oktober, November, Dezember, Jänner, Februar, März und April.
Anna Maria mag den Ausblick. Sie mag es, dass es hier wirklich dunkel wird. Nicht wie in Wien oder in Berlin, wo immer jemand ein Licht anhat. Hier ist es abends so dunkel, dass sie einen Meter vor sich nichts mehr erkennen kann. Sie erinnert sich an die Kommentare ihrer Friends, als sie in ein Schloss nach Niederösterreich ziehen wollte. Aber was weiß sie schon? Sie bellt, wenn sie besoffen ist, und ihre Leute nennen sie «Kernöl» beim Fortgehen. Aber gut, in Wien hassen sowieso alle alles, was nicht Wien ist.
«Bist du fertig für heute?», fragt Bahar und will wissen, ob Anna Maria endlich ihren Song geschrieben habe. Anna Maria nickt und sagt wieder nichts. Sie hängt in ihren Gedanken im Winter fest, in den vergangenen Monaten. In dieser beschissenen Pandemie zwischen all den abgesagten Konzerten und dem verzweifelten Versuch, die Zeit zu nutzen und etwas Neues zu schaffen. Anna Maria hatte immer weitergeschrieben, auch wenn ihr morgens das Aufstehen nicht gelang und sie manchmal schon vor dem Abendessen wieder zu Bett ging. Auch wenn sie sich nur kurz konzentrieren konnte, keine Energie für Gespräche hatte, saß sie jeden Tag ein paar Stunden am Küchentisch, aus dem die Schiefern rausstehen. Sie schaute hunderte Stunden aus dem kleinen Fenster in den Hof und überlegte, was sie aufschreiben könnte. Anna Maria wusste, dass sie nur weitergeschrieben hatte, weil sie sonst zerfallen wäre. Aber immerhin. Jetzt besitzt sie unzählige Songs über die Pandemie, die niemand hören werden will. Als essenziell empfand Anna Maria die Frage, wie sich die Menschen an diese Zeit erinnern würden. Ob all diese Jahre irgendwann zu einem besonders langen Jahr voller Lockdowns und Krankheit verschmelzen würden? Anna Maria legt ihre kalten Hände auf Bahars warme, feuchte Finger und drückt sie fest an ihren Brustkorb. Mittlerweile möchte sie diese Zeit vergessen. Oder wenigstens verdrängen können. «Lass uns reingehen», sagt Anna Maria.

Irgendwann wird die Sonne wieder durch das Fenster auf die Schiefern des Küchentisches scheinen, sie wird keine Weste mehr am Gang brauchen und kurz darauf auch nicht mehr draußen. Sie wird sich mit Naivität den langen Abenden, warmen Nächten und gesättigten Farben hingeben. Wird sich in ihr Zimmer zurückziehen, an Marie Antoinette denken, im Bett liegen und ihren Kopf an der kühlen Wand ablegen. Die Suppe wird ihr schmecken und das Bananeneis wird sie essen, obwohl ApRil ist.