Mehr als Klang und Kulisse. Die junge Autorin Mercedes Spannagel führt ihre Protagonistinnen und Protagonisten durch das Schloss und schafft so spannende Einblicke. Ab 25. Juni kann im Zuge einer Schlossführung das Schloss Grafenegg auch von Besucherinnen und Besuchern besichtigt werden. Die Schlossgeschichten sind eine literarische Ergänzung am Grafenegg Blog. Unterschiedliche Autorinnen und Autoren verzaubern mit fiktiven Kurzgeschichten, die das Schloss sowie sein gesamtes Areal zum Schauplatz haben.
Von Mercedes Spannagel
Das hier ist kein Disney-Schloss. Es stand in der Form, bevor Walt Disney überhaupt geboren wurde. Mit Anfang dreißig gehört Noa zu der Generation, die mit dem ganzen süchtig machenden, amerikanischen Fastfood sozialisiert worden ist. Er ist als Kind einer Japanerin und eines Deutschen in einer kleinen deutschen Stadt aufgewachsen und seine erste Assoziation, als er die helle, romantische Fassade des niederösterreichischen Schlosses sieht, ist Disney. Er muss über sich selbst lachen, Schlusslicht der Gruppe, die sich über die Brücke zum Schlosstor bewegt. Das Schloss Grafenegg ist von außen genau die Art Schloss, in der Noa sich als kleiner Junge gerne als Prinzessin verkleidet hätte. Ein Mann aus der Gruppe dreht sich zu Noa um und winkt ungeduldig, Noa solle aufschließen. Es ist sein Schwiegervater Hans, der durch sein Alter, Jeans und Kurzarmhemd, das über dem Bierbäuchlein etwas spannt, keineswegs aus der Gruppe herausfällt. Alles kulturliebende Menschen, die sich später für das Konzert im Wolkenturm umziehen werden. Noa weiß, dass er nicht da wäre, würde Nini nicht die erste Geige in dem Orchester spielen. Er hat dieses Interesse an Schlössern seltsamerweise nicht ins Erwachsenenalter mitnehmen können, selbst wenn er heute die innere Prinzessin durch das Tragen von Ohrringen mit großer Süßwasserperle ein wenig freilässt.
Es ist schön den Teil der Welt zu sehen, in dem Nini aufgewachsen ist. Er hört den Schwiegervater etwas über die Wasserspeier sagen, die über dem Tor als Steinungeheuer hocken, quasi die Gartenzwerge der Gotik. Einen komischen Kontrast dazu bilden links an der Fassade Wasserspeier in Form einer Jagdgesellschaft mit Jäger, Jagdhund und Hase. Noa denkt an Hundertwasser und noch mehr an die eigenwilligen Gebäude von Gaudí und das Schloss wird ihm sympathisch.

Als jemand «Folgen Sie mir» sagt, versteht Noa, dass es gar nicht sein Schwiegervater ist, der die Schlossführung leitet, auch wenn sein Referat diesen Eindruck hinterlassen hat. Die Gruppe betritt den Schlosshof und lässt den Schlossgraben hinter sich, der nicht mehr mit trübem Wasser befüllt ist, stattdessen wächst dort sattes, grünes Gras und statt der Krokodile stehen dort Schafe und mähen schmatzend den Rasen.Der Kulturvermittler erzählt, wie man an den zwei Bauweisen im Schlosshof erkennt, dass dem Grafen im Umgestaltungsprozess das Geld ausgegangen ist. Die eine Hälfte schlicht, die andere voll Schnörkel. Das bipolare Schloss, denkt sich Noa. Er würde es genau so machen, wenn er könnte. Es muss ja nicht gleich ein Schloss sein, es reicht ein Haus, nach den eigenen Vorstellungen gebaut, ein Potpourri aus verschiedenen Stilen, das beste aus allen Welten. Aber in der Realität reicht es nur für einen grau angestrichenen Quader mit Schotterbeet in der deutschen Pampa, der einem Rastplatz-Toilettenhäuschen zum Verwechseln ähnlich sieht. Daher der Schlossbesuch als Eskapismus, als Voyeurismus. Noa weiß nicht, ob sich seine Generation Eigentum jemals leisten kann. Alle sind irgendwie abhängig vom Erbe. Hans streitet mit dem Kulturvermittler über Jahreszahlen. «Ich bin hier aufgewachsen», sagt er dem Kulturvermittler empört. «Ich war schon unzählige Male im Schloss.» – «Ich auch», sagt der Kulturvermittler.
Er leitet die Gruppe zur weißen Stiege, die Stimmung ist ein wenig angespannt. Hans lässt sich zu Noa zurückfallen und erzählt ihm synchron zum Kulturvermittler, als würde dieser eine unbekannte Sprache sprechen, die Hans Noa erst übersetzen müsste, die Geschichte der beiden Fenstergucker: Dass man die Darstellung des Grafen, der in einer Hand ein volles Säckchen hält und in der anderen bloß eine einzige Münze, als geizig interpretieren könne. Hans drückt sein Bildungsbürgertum anderen bevorzugt durch das Zitieren von lateinischen und deutschen Aphorismen wie einen Knebel in den Mund. Ja, Noa hat schon immer das Gefühl gehabt, Hans würde einen Semi bekommen, wenn er seine Gesprächspartner als dumm demaskieren kann. Er ist immer wieder erstaunt, dass sich Nini mit diesem Vater zu dieser bemerkenswerten Frau entwickeln konnte. Er wäre vermutlich eingegangen wie eine Zimmerpflanze ohne Wasser und Licht. Aber es stimmt, Noa gefällt der Humor in den kleinen Details. Besonders die Dualität der Statue, die beim Eintreten einen Ritter zeigt, und, während die Gruppe die Treppe hochsteigt, sich von hinten als Mariendarstellung mit angedeutetem Jesuskind offenbart. War es damals noch Blasphemie, das Weltliche und das Göttliche als eins darzustellen, ist es heute immer noch ein Problem, wenn die Grenzen zwischen Mann und Frau verwischen. Hans kennt auf jeden Fall ganz klar seine Rolle und Noa schämt sich ein wenig.

Im Wappenzimmer angekommen, deutet Hans an die Decke, die voll mit Wappen ist wie der Himmel mit Sternen. «Es ist aber der Stammbaum der Frau des Grafen», flüstert Hans zu Noa. «Ganz unüblich.» Noa hört gar nicht mehr zu. Es geht weiter in die Grafenwohnung, und während der Kulturvermittler davon erzählt, für welchen Gebrauch die Zimmer waren: Speisezimmer, Herrensalon, Damensalon mit Logia, Schreibzimmer der Gräfin, Badezimmer, Schlafzimmer, dreht sich Noa auf dem schönen Parkett und stellt sich vor, was jetzt in diesen Räumen stattfinden könnte, was er als Schlossherr hier alles für rauschende Feste feiern würde. Da die Zimmer bis auf ihre aufwendigen Deckenverzierungen, Tapeten und Kachelöfen leer sind, das Mobiliar während der Besatzung als Brennholz gedient hat, bleibt alles seiner Fantasie überlassen. Noa stellt sich schwere Vorhänge vor, dicke Teppiche, warmes Licht von Kerzen und Lustern, von der Wucht von Weintrauben und Wein fast brechende Bankette, Samt, Juwelen und nackte Haut. Mit dem Alter kann man sich mehr mit dem Dunklen und Bösen aus Disney-Filmen identifizieren. Ständig wird alles Mögliche romantisiert. Im Herrensalon stellt sich Noa ans Fenster, um in die Gartenanlage zu schauen, wo er gerne mit Nini morgen noch picknicken würde, und dann schaut er zufällig zu seinen Füßen und dort liegt doch tatsächlich eine giftgrüne Perücke.
Das Schloss ist viel zu jung und modern, um ein überzeugendes Schlossgespenst zu haben. Die Gruppe geht den Weg wieder zurück zum imposanten Rittersaal. Der Kulturvermittler erzählt als Anekdote von der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als das Dach so renovierungsbedürftig war, dass es hereingeregnet hat und man hier im Rittersaal unter den Blicken der portraitierten Damen und Herren Schlittschuh laufen konnte. Aber Hans zieht Noa am Ärmel, widerwillig neigt Noa sich ihm entgegen. «Weißt du schon, dass Nini dieses Schloss geliebt hat als Kind?» Noa schüttelt den Kopf. «Sie war eine kleine Ronja Räubertochter, immer auf der Suche nach Abenteuern. Sie hat immer nach Geheimgängen gesucht in alten Gebäuden.» – «Und?» Hans geht die paar Stufen zur Bibliothek hinauf und deutet nach links auf die Tapete. Strahlen die Augen von Hans wie Noa es auch von Ninis Augen kennt? Er stellt sich vor, wenn er sich bückt und durch das kleine Schlüsselloch schaut, in Ninis Auge zu sehen. Er fragt Hans: «Was ist dahinter?»