Das Jahr 1922 markiert nicht nur den Beginn der niederösterreichischen Eigenständigkeit – es verweist obendrein auf die dialektisch fruchtbare Mittlerrolle des Grafenegg Festival. Ein Panorama in vier Teilen.
Von Ronald Pohl
I
Etliche Größen des internationalen Lebens gelangten im Jahr 1922 zu umwälzenden Einsichten. Nicht die geringste unter ihnen mochte gelautet haben: Hat uns das Schicksal auch benachbarte Sitze zugewiesen, so müssen wir füreinander doch nicht geschaffen sein! Ruhig wird man das Kalenderjahr 1922 nicht nennen wollen. Eher schon bezeichnet die vierstellige Zahl eine kuriose Marke in der ohnehin wirren Chronik der Zwischenkriegszeit: ein Jahr banger Erwartungen, geplagt vom Geist einer vielfach destruktiven Unruhe.
Würde der Betrachter mit allen wesentlichen Erscheinungen dieses Jahres konfrontiert, ihm würde schlagartig unbehaglich zumute. Er sähe Geister. Er bekäme halbfertige Gestalten zu Gesicht: Produkte der Transformation, aber auch neue, unverbrauchte Prototypen der Moderne. Er stieße unwillkürlich auf den neuen Typus des/der «Angestellten». Diese agilen Vertreter eines neuen, auf Durchlässigkeit und sozialen Aufstieg ausgerichteten Zeitalters bevölkern zu Hunderttausenden die Kontore und Büros neuer, eben erst im Entstehen begriffener Großbetriebe.
Angestellte sind zwar bloße «Gehilfen» derjenigen Mächte, die die aus der Lohnarbeit erwirtschafteten Profite für sich einstreichen. Aber sie entsprechen auch nicht mehr dem Bild des gesichtslos-anonymen Fabrikarbeiters. Sie genießen das Privileg, auf moderate Weise über sich hinauszuwachsen. So können sie – aufgrund einer die Kaufkraft stärkenden Entlohnung – sogar die Vorlieben ihrer Brotgeber nachahmen. Deren Geschmack imitieren sie, weil die industrielle Massenfertigung die Accessoires des Luxus neuerdings für jedermann bereithält: wenn auch häufig nur in der Währung des Talmi.
Angestellte bezahlen für Dienstleistungen, die man ihnen erbringt, gutes Geld. Gerade Frauen verschmelzen förmlich mit ihrer Schreibmaschine. Gemeinsam mit ihr bilden sie die kleinste Produktionseinheit, die dem Diktat des Vorgesetzten unmittelbar Folge zu leisten hat. Ihr Einkommen sollen sie, gleichsam als Vorleistung auf die Veränderung ihres Status, in nützliche Schönheit investieren, zum Beispiel in modische Kleidung. Nur dass ihr Geld in Zeiten galoppierender Inflation immer weniger wert wird. Die Menschen der hastigen Zwischenkriegs-Moderne sind immer auch: Zwickmühlengeschöpfe.

Politik, Literatur und ein Schwimmrekord
Da wäre die politische Großwetterlage: ein Druckgeschehen, das mit beängstigender Gewalt auf den Kreisläufen von Kapital und symbolischer Wertschöpfung lastet. Deutschland, der zu schmerzlichen Reparationszahlungen verurteilte Hauptverlierer des Ersten Weltkriegs, hat die Fieberattacken eines drohenden Bürgerkriegs gerade erst überstanden. Gleichwohl steht die Weimarer Republik auf immer noch wackligen Beinen. Die rechtsradikalen Verächter des «Schandfriedens» von Versailles untergraben sukzessive die Autorität der Demokratie. So nimmt es kaum Wunder, dass am 24. Juni in Gestalt des Reichsaußenministers Walter Rathenau eine der brillantesten Figuren in einem konfusen Staat ermordet wird: von Nationalsozialisten, seiner jüdischen Herkunft wegen.
In Gestalt der Figur «Paul Arnheim» hat Rathenau Eingang gefunden in den berühmtesten hypertrophen Roman der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, in Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften». Dort eignet Arnheim (alias Rathenau) die ein wenig unentschiedene Haltung eines Industriellen, der gerne mehr wäre, als er ohnehin schon ist: nicht nur ein Unternehmer und Arbeitgeber großen Stils, sondern obendrein ein feinsinniger, geistiger Impulsgeber.
Als solchem läge ihm besonders daran, dass alle Welt sich nach übergeordneten geistigen Prinzipien zu richten habe, solchen, die Stabilität gewährleisten. Nur bleibt völlig unklar, welcher Art besagte Prinzipien zu sein hätten. In Musils feinem Spott über eine Gesellschaft, die auch nach der Katastrophe von 1914/18 nichts Sinnstiftendes mit sich anzufangen weiß, klingt die Sehnsuchtsmelodie von 1922 unüberhörbar an. Es bleibt unklarer denn je, wohin die Gesellschaften ihre überschießende Produktivität lenken sollen. Also lauschen ihre Angehörigen mit wachsender Faszination den neuen Werksirenenklängen. In Russland wird Josef Stalin am 3. April 1922 zum Generalsekretär der KPdSU ernannt. Gegen Ende des Jahres wird die neue, kommunistische Heimat aller Werktätigen im eurasischen Osten auch offiziell als «Sowjetunion» deklariert.
In Fernost zeigt man die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas an – noch hat der «Lange Marsch» hinein in das Reich der Mitte für die Gefolgsleute Maos nicht begonnen. Einen anderen Marsch, nämlich den auf Rom, unternehmen unterdessen Italiens Faschisten. Gegen Ende des Kalenderjahres werden Mussolini und seine Kumpane in Rom den Faschistischen Großen Rat eingerichtet haben: Die Nachkriegsgesellschaften überschlagen sich förmlich darin, den flüssigen, amorphen Zustand ihrer blindwütigen «Entschlossenheit» in die gusseiserne Form einer autoritären Struktur zu gießen.
Das Schicksal derer, die die gesellschaftliche Modernisierung als Katastrophe erleben, als schmähliche Entlassung hinein in die Anonymisierung, weckt bei den Betroffenen Sehnsüchte: die latent aggressiven, weil auf Ausschluss von Minderheiten beruhenden nach dem sozialen Großkörper – gerne in Form der «völkisch» versippten Schicksalsgemeinschaft.
Wie zum Hohn feiert man 1922 im Sport einen Geschwindigkeitsrekord nach dem anderen. Geschicklichkeit und bloße Muskelkraft sollen die Degradierung des Menschen zum Anhängsel «seelenloser» Apparate vergessen machen. Der finnische Leichtathlet Paavo Nurmi läuft 5000 Meter erstmals unter 15 Minuten. Johnny Weissmüller durchpflügt – noch ganz ohne markerschütterndes Tarzan-Geschrei! – die 100 Meter-Schwimmstrecke in weniger als einer Minute. Die Chronik des Jahres 1922 geizt nicht mit Zwischenzeiten: vorläufigen Einträgen in den tabellarischen Verlautbarungen des Fortschritts. Die Weltgesellschaft, die sich in den Wirren des Ersten Weltkriegs erstmals als global wirksame Schicksalsgenossenschaft zu begreifen gelernt hat, jedoch im Wege allseitiger Verfeindung, nimmt scheinbar vor sich selbst Reißaus. Das Maß ihrer Fortbewegung ist die unausgesetzte Beschleunigung. Nur die Richtung all dieser «progressiven» Tendenzen bleibt unklarer denn je.

II
Als im Mai 1922 einander die zwei modernistischen Großschriftsteller par excellence, James Joyce und Marcel Proust, im Pariser «Hotel Majestic» begegnen, tragen beide die typische Charaktermaske des «Jazz-Age» zur Schau: Sie sind Partygäste. Jeder von ihnen hat soeben die epische Großform des abendländischen Romans von Grund auf umgestülpt. Der kurzsichtige Ire Joyce mit seinem «Ulysses», der phonemisch mehrwertigen Übertragung der homerischen Struktur auf einen einzigen, gewöhnlichen Tag in Dublin. Der andere, ein zurückgezogen lebender Bourgeois, hat in seiner mehrbändigen «Suche nach der verlorenen Zeit» die Arbeit der Erinnerung in einen Prozess unaufhörlicher Vergegenwärtigung übersetzt: in beinah völliger Aufzehrung seiner – oder eigentlich: einer jeglichen – Gegenwart.
No Sports
Die Hotelgäste, die in Wahrheit zu Ehren des Komponisten Igor Strawinski zusammengekommen sind, beobachten das Treffen der beiden Olympier mit angehaltenem Atem. Werden Proust und Joyce einander in die Arme sinken? Oder wenigstens einen wirksamen Schicksals- und Freundschaftsbund miteinander schließen?
Joyce erscheint auf dem Fest schwer angetrunken, sein Aufzug wirkt derangiert. Der ewig fröstelnde Proust hat sich in einen Pelz verkrochen. Als die beiden nebeneinander Platz nehmen, herrscht zunächst Funkstille. Irgendwann beklagt Joyce bitter seinen Hang zu Kopfweh und sein trübes Augenlicht. Proust, seinerseits nicht faul, kontert mit Magenschmerzen. Die beiden kommen überein, dass sie jeweils ausreichend Bedarf für einen versierten Sterbebegleiter hätten. Das unausgesprochene Motto zwischen beiden lautet offensichtlich: no Sports.
So sei es aber gar nicht gewesen, beteuert Joyce-Biograf Richard Ellmann. Proust und Joyce hätten für die Gesprächseröffnung des jeweils anderen vor allem Verneinungen parat gehabt. Ob Joyce den Herzog von So-und-so kenne (Proust)? «No!» (Joyce). Ob er, Proust, Teile seines
«Ulysses» gelesen habe (Joyce)? «No, no!» (Proust). Man muss sich Genies mitunter auch als glückliche Autisten vorstellen. Die beiden schieden voneinander als Planeten, deren Bahnen nicht dafür bestimmt schienen, einander zu berühren. Auch das geht aus der Chronik des chaotischen Jahres 1922 hervor: Mitunter lebt es sich am vorteilhaftesten Rücken an Rücken.
III
Die Trennung der beiden heimischen Landes-Entitäten Wien und Niederösterreich geht auf einen Beschluss zum Ende des Jahres 1921 zurück. Irgendwann schien den Beteiligten der beiden ungleichen Großkörper eine weitere Zusammenarbeit ganz einfach nicht mehr zweckmäßig.
Die Sozialdemokraten besaßen 1919 im Gemeinderat wie im Landtag die Mehrheit. Die Christlich-Sozialen dominierten freilich das agrarische Flächenland – und hatten mit der modernistischen, auf Wohlfahrt gegründeten Kommunalkultur des «Roten Wiens» auch nichts zu schaffen. Die am 1. Jänner 1922 vollzogene, als gütlich zu beschreibende Trennung führte einerseits zur verwaltungstechnischen Entflechtung der beiden Länder. Nur in Ausnahmefällen wurden gemeinsam Festwochen ausgerichtet (1927) oder Energie-Aktien zur Zeichnung aufgelegt. Das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung hingegen blieb noch lange fest im Herzen Wiens verankert.
Glück und Elend der wechselseitigen Bezogenheit ergeben erst ein sinnfälliges Ganzes. Die Metropole, diesfalls Wien, vermag nichts ohne ihr malerisches, großenteils agrarisches Umland, dem sie, gleich einem Nucleus, inmitten liegt. Um von sich und ihrer Arbeitsfron in Rufweite der Hofburg absehen zu können, dürfen die Wienerinnen und Wiener des fortschreitenden 20. Jahrhunderts wenigstens für die Dauer glutheißer Sommer in das liebliche Umland entfliehen. Dort ist der Boden für sie auf das angenehmste bereitet. In den Auwäldern und Bergschatten liegen die Jagdschlösser und Domizile der Aristokratie, ihre ehemaligen Reitschulen, Wasserspielplätze und Tanzböden. Ein Kürzestgedicht von Andreas Okopenko kommt einem dabei unweigerlich in den Sinn: «In jedem Schlössl / Ein Mätressl».
In der Übernahme einer solchen Infrastruktur bewähren sich die republikanischen Funktionseliten von 1918 an bis heute. Sie arbeiten, ausgerechnet zur Ferienzeit, an der Herausbildung ihres eigenen, guten Geschmacks. In der Sommerfrische, ihrer gliederlähmenden Schwüle, steigt zudem die erotische Potenz der Tendenz nach ins Unermessliche. Es handelt sich um den Umbau des Leistungsprinzips, dem man ohnehin das ganze Jahr über unterliegt, in etwas fallweise Genussreiches.
Sittliche Sommerverspannungen
Man sistiert den Zweck. Man entleiht ihm jedoch, um nicht auch noch in kurzen Sommerhosen dumm da zu stehen, den tödlichen Ernst. Nur der potenziell höchste Einsatz lohnt schließlich das Spiel; nur in der Wahrung dieses Prinzips steckt auch der Grund für die schier unermessliche Kulturgier der Sommerfrischler. Beethoven hat schließlich keine Serenaden zum Amüsement provinzieller Fürsterzbischöfe komponiert, sondern – in Stellvertretung für uns alle – die Autonomiewerdung des Subjekts in berückend ernste Musik verwandelt. Ein Wutbürger avant la lettre.
Arthur Schnitzler und Heimito von Doderer haben über diese sittlichen Sommerverspannungen jeweils eigenwillige Leistungsdiagnosen angestellt, gültig nicht nur für 1922 und die ersten Folgejahre. Sittenbilder, die auf den Rasentennisplätzen in Baden bei Wien oder in Reichenau an der Rax erst zur Geltung kommen: Die Sportplätze dienen als Versuchsfelder für (ehemals) neue Anschauungsformen. Dem einen – René Stangeler in der «Strudelhofstiege» – verhilft ein solcher Rax-Aufenthalt zur nachträglichen Entschlüsselung der eigenen Begierden. Der andere – der Fabrikant Hofreiter in «Das weite Land» – verwandelt die Kulisse der Sommerfrische in eine blutige Richtstätte, indem er sich aus reiner Langeweile für die Untreue seiner (ohnehin ungeliebten) Ehefrau rächt und ein halbes Kind über den Haufen schießt. Warum? Er möchte als Hahnrei wenigstens «kein Hopf» sein.

IV
Sommer in Niederösterreich unterliegen generell den Gesetzen einer besonderen Logik. Sie ressortieren in der Sphäre des zivilen Ausnahmezustandes. Der Fortschritt beansprucht eine solche Wirksamkeit noch dann, wenn er sich landadelig-jovial gibt. Er tritt im leichten, leinernen Gewand auf und borgt sich bei den Einheimischen manch tarnende Gepflogenheit: Die soll ihm notwendige Vorstellung einer Zugehörigkeit vermitteln. Erst auf einem Areal wie dem Grafenegger, mit seinem Wolkenturm und seiner Reitschule, findet die Idee der notwendigen Doppelwertigkeit zur glücklichsten Bestimmung. Das zauberhaft schöne Areal bildet eine Exklave, die verdienten Stützen der Gesellschaft aus nah und fern die Illusion gönnt, ihr hektisches, meist städtisches Leben verdiene jede Form der Aufhebung: Es könne in Klang gefasst werden, enthalte darum weiter alle Widersprüche – und gehe doch auf im unvergleichlich wohltuenden Aroma einer Sommernacht.
Die Idee eines «Naturtheaters» – man denke an Kafkas rätselhafte Reklame für das «Naturtheater von Oklahoma» im «Verschollenen» – birgt eben nicht nur die utopische Vorspiegelung einer erotisch hochwertigen Transformation: Leicht stellt es sich ja heraus, Titania wäre im Wald von Athen bloß einem gewöhnlichen Esel in Liebe zugetan gewesen («Sommernachtstraum»). Wichtiger scheint der Grad der Vermitteltheit, der insbesondere Grafenegg auszeichnet. Pianist Rudolf Buchbinder, dessen staunenswerte, heute zudem abgeklärte Virtuosität den Daseinszweck von Grafenegg am reinsten begründet, besitzt ein eindrucksvolles pädagogisches Vorleben.
Als junger Volksbildner konfrontierte Buchbinder Hunderttausende mit den Werken von Mozart, Beethoven, Schubert. Er agierte etwa in den 1970er-Jahren mustergültig als Vorzeigepianist des ORF — und lüftete mit begeisternder Miene das Geheimnis schier überirdischer Harmonien, während seine kräftigen Finger, die ohnehin kein technisches Hemmnis kannten, die Tasten mit beinah unziemlicher Inbrunst streichelten. Buchbinder, heute unser größter Beethoven-Pianist, spielt während des Grafenegger Sommers 2022 übrigens unter anderem Grieg und Schumann.
Mut zur Lücke
In ihm verkörpert sich, 100 Jahre nach Gründung von Niederösterreich, überzeugend das Grafenegger Prinzip: In Zeiten des Übergangs wie der Gefährdung bildet die Musik ein hinreichend glaubwürdiges Medium, um die eigenen, symbolischen Besitztümer mit den jeweiligen Schwächen und Irrtümern abzugleichen. Erst dann wird nämlich deutlich, dass der
Fortschritt der Selbstvergewisserung bedarf, so wie Wien des niederösterreichischen Umlands, wie die gewöhnliche Konzertsaison eines Gegenstücks wie des Grafenegger Sommers. Und das größte heimische Bundesland einer Lücke im eigenen Gewebe: einer (groß-)städtischen Vakanz, eines Lochs in der eigenen Überlieferung. Die Lücke heißt «Wien» und misst 278 Quadratkilometer (gegenüber den 19.317 Niederösterreichs).