Mehr als Klang und Kulisse. Lange war es still, anderes war wichtiger, das Homeoffice war unsere einzige Bühne. Doch die Stille ist weg und zur Abwechslung wurde sie nicht zu Lärm, sondern zu Musik. Autorin Simone Hirth fürt in ihrer Geschichte die Freundin Poesie ein und schreibt über die lang ersehnten Klänge und die damit einhergehende Freude. Die Schlossgeschichten sind eine literarische Ergänzung am Grafenegg Blog. Unterschiedliche Autorinnen und Autoren verzaubern mit fiktiven Kurzgeschichten, die das Schloss sowie sein gesamtes Areal zum Schauplatz haben
Von Simone Hirth
Am meisten nervt mich die Butter, sagt Anna Blume. Wenn ich die Jausen richte, sagt sie, jeden Morgen, diese harte Butter, die sich nicht verstreichen lässt. Die sich dagegen wehrt, auf den Broten verteilt zu werden, sich mir widersetzt, querstellt, oder besser gesagt: klumpt. Als hätte ich nicht schon mit genügend anderen Klumpen zu kämpfen in diesem Leben.
Anna Blume schnaubt, streicht sich das Haar aus dem Gesicht, zupft ihr Alltagskleid zurecht und klappt den Laptop auf. Das nächste Zoom-Meeting für heute steht an. Sie muss jetzt weitermachen. Sie muss jetzt frisch aussehen. Mitschreiben. Anwesend sein. Aufmerksam lächeln. Und mit einem Handgriff noch schnell den Wäscheständer aus dem Sichtfeld schieben, der direkt hinter ihrem Schreibtisch steht. Sonst ist ja nirgendwo richtig Platz. Und dass hier überhaupt einmal ein Schreibtsich stehen würde und das Kammerl also ein Büro wäre, das hat Anna Blume nicht ahnen können, als sie mit ihren zwei Kindern nach der Scheidung und ungezählten Wohnungsbesichtigungen dann endlich in diese Wohnung ziehen konnte und dachte: Wenigstens ein Abstellkammerl. Purer Luxus, wenn man den Immobilienmarkt kennt.
Über Nacht draußen stehen lassen ist ja auch keine Option, sagt Anna Blume noch. Die Butter, meine ich. Dann wird sie schnell ranzig. Dann schmeckt sie nicht mehr. Dann essen die Kinder ihre Jause nicht. Aber sie brauchen ja, sie müssen doch –
Ich muss jetzt Schluss machen, sagt Anna Blume, den Blick auf die Uhr gerichtet, und beendet den Videocall mit ihrer Freundin.
Anna Blumes älteste und beste Freundin. Die Poesie. Persönlich. Die beiden haben sich, außer auf den Bildschirmen ihrer Smartphones, lange nicht gesehen. Auch die Poesie hatte ihre Baustellen. Vielleicht, da sie kinderlos und nur für sich verantwortlich ist, keine Butter-Baustellen. Keine Wäscheständer-Baustellen. Keinen Zoom-Meeting-Wahnsinn im Abstellkammerl. Dafür aber hatte die Poesie seit geraumer Zeit, ganz im Gegenteil zu ihrer Freundin Anna Blume, vor allem eines um sich: große Stille. Stille, die recht bald bedrohlich wurde, da sie an der Existenz zu nagen begann. Sich langsam von innen durch ihr Wesen fraß. Denn die Poesie war die erste, die von den Tagesordnungen gestrichen wurde, als alle Welt ins Homeoffice ging. Keine Zeit mehr, kein Platz, keine Nerven, keine Finanzierung, kein hinreichendes digitales Konzept, keine Kraft.

Vielleicht später wieder, hieß es, zur Zeit gibt es leider Dringlicheres. Wir müssen jetzt schauen, wo wir bleiben. Den Fokus neu ausrichten. Wenn alles vorbei ist, melden wir uns. Eventuell. Wenn die Lage es wieder zulässt. Bis dahin alles Gute. Bleiben Sie zu Hause. Und bleiben Sie gesund!
Wann genau war eigentlich alles vorbei? Überlegt die Poesie jetzt. Ist denn alles vorbei? Und wenn alles vorbei ist, woran merkt man das? Oder ist man dann schon tot?
Ich will nicht tot sein, denkt die Poesie und beginnt, sich ein Butterbrot zu schmieren. Und so lange ich das noch denken kann, denkt sie, und also noch etwas wollen und noch ein Butterbrot essen kann, so lange kann es nicht zu spät sein.
Die Poesie spuckt in die Hände, klappt ihren Laptop auf, recherchiert ein wenig im Internet und wird fündig.
Als Anna Blume das Kuvert aus dem Postkasten fischt, weiß sie sofort: Das kann nur von einer sein.
Anna Blume hat lange keinen Brief bekommen, auf dem ihr Name und ihre Adresse in Handschrift standen. Kurz denkt sie schon: Na klar, die hat ja alle Zeit der Welt, lange Briefe zu schreiben. Aber sie soll bloß nicht erwarten, dass ich in meiner Lage zum Antworten komme.
Dann aber schämt Anna Blume sich auf der Stelle für diesen Gedanken. Über ihre Freundin. Mit der sie einmal – wann war das? – so viel Zeit verbracht hat. Und keine Briefe schreiben und auch keine Videocalls abhalten musste. Weil sie sich trafen. Einfach so.
Anna Blume verschluckt sich. Reißt das Kuvert auf. Und zieht keinen Brief heraus, sondern Konzertkarten. Echte Konzertkarten. Auf Papier gedruckt. Mit Randstreifen, die beim Einlass abgerissen werden. Herzlich willkommen und viel Spaß!
Anna Blume hustet. Ein Konzert im Freien. An einem Sommerabend. Zum Hingehen. Wirklich. Direkt.
Anna Blume ruft die Poesie an und sagt: Ich kann da nicht, die Kinder, die Arbeit am nächsten Tag, es wäre schön, aber, das ist gerade nicht drin.
Papperlapapp, sagt die Poesie. Wir nehmen die Kinder mit. Den einen Abend wird es gehen. Und danach kannst du dich weiter über die Butter ärgern. Aber dieser Abend gehört uns.
Anna Blume weiß aus Erfahrung: Wenn die Poesie so spricht, dann hat es keinen Sinn, dagegenzureden.
Also gut, sagt sie und seufzt.

Eine Woche später sitzen Anna Blume, ihre beiden Kinder und die Poesie in einem Schlosspark auf einer Picknickdecke zwischen vielen anderen Leuten auf Picknickdecken. Sie essen, was die Poesie noch hastig eingekauft hat: Baguette und Käse und Trauben und Oliven und Gurkerl. Die Kinder werfen sich gegenseitig Gummibärchen in die Münder. Auf der Bühne wird der letzte Soundcheck gemacht.
Die Kinder kichern, stehen auf und spielen Fangen. Anna Blume und die Poesie sitzen schweigend nebeneinander, lächelnd, beide. Es gibt nichts zu sagen jetzt. Es gibt auch nichts zu denken. Es ist alles, hier und in diesem Moment, wie es sein soll. Es wird langsam dunkel. Es riecht nach Lindenblüten und frisch gemähtem Gras. Heiteres Gemurmel ringsum. Das Konzert beginnt. Händeklatschen. Anna Blume legt ihren Kopf auf die Schulter der Poesie. Schließt die Augen. Die Freundinnen atmen gleichzeitig tief ein und aus. Als hätten sie lange überhaupt nicht geatmet.
Hörst du, flüstert die Poesie. Die Stille ist weg!
Ja, flüstert Anna Blume, und sie ist zur Abwechslung nicht zu Lärm geworden. Sondern einfach zu Musik.
Auf der Heimfahrt schlafen die Kinder im Auto ein. Anna Blume und die Poesie tragen die schlafenden Kinder zu Hause angekommen in ihre Betten. Setzen sich dann an Anna Blumes kleinen Küchentisch und trinken schweigend noch ein Glas Wein.
Danke, sagt Anna Blume schließlich.
Die Poesie grinst. Sagt: Bin ich froh, dass wir noch leben.
Willst du hier übernachten, fragt Anna Blume und gießt Wein nach. Ich klappe dir die Couch aus.
Gern, sagt die Poesie. Und morgen früh helfe ich dir Butterbrote schmieren. Damit du dich nicht gleich wieder ärgern musst.
Brauchst du nicht, grinst Anna Blume. Ich ärgere mich nicht mehr über Butter. Ich habe sie durch Mayonnaise ersetzt. Die ist weicher und schmeckt außerdem nach mehr.